Entfremdete Lohnarbeit: Süßer die Ketten nie klingen

Christoph Ruf über die freie Zeit zwischen den Jahren

Wenn ich meinen Mailverkehr der vergangenen Tage richtig deute, machen erfreulich viele Menschen derzeit das einzig Richtige: nichts. Die beste Firewall zwischen dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und der lärmenden Welt da draußen ist und bleibt eben immer noch die Abwesenheitsmeldung des Mailprogramms. Ich habe meine auch am 22. Dezember aktiviert und frage mich seither jeden Tag intensiver, warum ich sie jemals wieder rausnehmen sollte. Im Grunde ist es hochgradig albern, sich wochenlang auf eine verregnete, windige, ungemütliche Zeit am Ende eines Jahres zu freuen. Nur, weil man da mal ein paar Tage lang das machen kann, was man will. Als ob man das nicht eigentlich jeden Tag tun könnte.

Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten, stellte einst Jean-Jacques Rousseau fest und lieferte damit bereits vor langer Zeit eine ziemlich zutreffende Analyse des globalen Wirtschaftens im Kapitalismus. Aber was hätte der alte Zausel wohl gesagt, hätte er geahnt, dass 300 Jahre später Millionen von Menschen an Ketten liegen, die sie sich durch Arbeitsverträge selbst ans Bein gebunden haben? Und dass die meisten Menschen unter »Zurück zur Natur« einen einstündigen Spaziergang im Stadtwald meinen, ehe der Sonntags-»Tatort« den nahenden Beginn der nächsten fremdbestimmten Woche ankündigt.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Dabei will ich mich über mein »Arbeiten« gar nicht beschweren, das Schreiben ist schon mein Ding, zumal mir die Themen, über die ich schreibe, in aller Regel noch nicht mal egal sind. Schon das ist Luxus, das ist mir bewusst, wie auch das Fehlen eines Chefs oder einer Chefin, die man als Selbständiger merkwürdigerweise gar nicht vermisst. Überhaupt würden mir innerhalb von wenigen Sekunden ein paar Dutzend Berufe einfallen, in denen ich so deplatziert wäre, dass es zwischen Dienstbeginn und Frühstückspause am ersten Arbeitstag nur zwei Optionen gäbe: Entweder ich werde gefeuert oder ich finde vorher ein offenes Fenster, durch das ich mit einem mutigen Hechtsprung auf die Straße flüchten kann.

Alles sehr gut auszuhalten, also. Zumindest, wenn man mal akzeptiert hat, dass man acht bis elf Stunden am Tag Dinge tun muss, die man nicht tun würde, wenn es nicht ökonomisch geboten wäre. Um die Miete überweisen zu können? Das stimmt und klingt doch zu heroisch. Denn natürlich arbeiten die meisten von uns, um sich abzüglich der Miete einen Lebensstandard leisten zu können, an den man sich irgendwie gewöhnt hat und der einem dann offenbar doch wichtiger ist als die Freiheit, über 24 Stunden seines Tages wirklich selbst verfügen zu können. Vielleicht ist es ja eine gute Idee, sich »zwischen den Jahren« mal die großen Philosophen zu Gemüte zu führen. Rousseau natürlich. Oder die Scherben: »Arbeit macht das Leben süß, süß wie Maschinenöl.«

Tiefe Wahrheit liegt in diesen Worten, und wer das erst mal erkannt hat, blickt mit Staunen auf die Welt, in der er lebt und in der es die merkwürdigsten Phänomene zu beobachten gibt: Menschen, die sich Freunde nennen, sich nur alle paar Monate sehen und vier der fünf Stunden, die ihnen bleiben, »über Arbeit« reden, beispielsweise. Weihnachtsfeiern, bei denen der Chef mal so ganz menschlich rüberkommt (Motiv-Socken, Duz-Erlaubnis), aber auch nach dem fünften Piccolo über Büroalltag gequatscht wird, der so sterbenslangweilig ist, dass das nur Menschen nicht auffallen kann, die einen geregelten Arbeitsalltag brauchen, weil sie ansonsten nichts mit sich anzufangen wüssten.

Überhaupt, die Arbeit. Wegen ihr führen Menschen Fernbeziehungen, wegen ihr wechseln andere den Wohnort, trennen sich, weil die Erfordernisse der »Arbeit« nicht mehr mit dem Privatleben zu vereinbaren waren. Wegen ihr rennen Millionen sehenden Auges in den Burn-out, schwören andere auf fernöstliche Entspannungsmethoden oder injizieren sich die, die der lokale Dealer parat hält. Die »Anarchistische Pogo Partei Deutschlands« hat all das bereits vor 20 Jahren erkannt. Ihr Slogan war schlicht. Und schlicht die Wahrheit: »Arbeit ist Scheiße«.

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