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Louis-Ferdinand Céline: Kanon aus der Kiste?

Louis-Ferdinand Célines zu Lebzeiten unveröffentlichter Roman »Krieg« liegt auf Deutsch vor

  • Enno Stahl
  • Lesedauer: 4 Min.

In Frankreich wurde der Fund als Sensation gefeiert: Vor zwei Jahren übergab ein ehemaliger Theaterkritiker der »Libération«, Jean-Pierre Thibaudat, einer Archivinstitution eine Kiste mit 6000 Seiten Originalmanuskripten von Louis-Ferdinand Céline. Dieser war bekanntlich Parteigänger des Vichy-Regimes und glühender Antisemit. Er befand sich auf der Flucht, die Manuskripte blieben in seiner Pariser Wohnung, die wiederum ein Résistancekämpfer bezog. Der scheint das Material an sich genommen und jahrzehntelang aufbewahrt zu haben, bis er es 2004 an Thibaudat übergab – mit der Auflage, es erst nach dem Ableben von Célines Witwe Lucette zu publizieren. Er befürchtete, dass sie diesen Archivbestand »säubern« könnte.

Als erstes dieser Manuskripte ist der Roman »Krieg« erschienen, 2022 in Frankreich, jetzt in deutscher Übersetzung. Tatsächlich ist diese Entdeckung sensationell. Céline ist zwar ein höchst umstrittener Autor: Kaum jemand dürfte je derart widerlich-hämische antisemitische Pamphlete verfasst haben wie er, inklusive Mordaufrufen. Darunter fällt »Bagatelles pour un massacre« (1937), das während der Nazizeit ins Deutsche übersetzt und in stark gekürzter Fassung publiziert wurde, es ist heute längst vergriffen.

Seine Romane sind davon jedoch kaum geprägt, sodass man sie, der problematischen Person ihres Verfassers eingedenk, weiterhin lesen und in ihrer formsprengenden Kraft würdigen kann. Das gilt auch für »Krieg«. Das Buch ist in Célines üblicher, gehetzt-fragmentarischer Art geschrieben, sprunghaft, umgangssprachlich, zynisch-abgeklärt, bisweilen rüde formuliert: »Die ganze Person, die einem gegeben ist und die man verteidigt hat, die ungewisse grässliche Vergangenheit (…), all das zerbröselt, man rennt den Bruchstücken hinterher. Ich schaute es an, das Leben, fast folterte es mich. Wenn es mir dereinst im Ernst den Todeskampf beschert, dann spuck ich ihm in die Fresse, einfach so.«

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»Krieg« ist wie die meisten Bücher Célines autobiografisch verankert und beleuchtet ein Kapitel, das in seinem ersten Hauptwerk »Reise ans Ende der Nacht« nur angerissen wird, nämlich die Zeit nach seiner Kriegsverletzung, seinen Lazarettaufenthalt. Skurril und alptraumhaft ist das, was er beschreibt. Eine freiwillige Hilfskrankenschwester aus besserem Haus vergeht sich an den Verwundeten, befasst sich insbesondere mit Célines Alter Ego Ferdinand, macht aber auch vor den Toten nicht halt.

Alle im Lazarett sind traumatisiert, Ferdinand selbst hat Kopfschmerzen und Halluzinationen, schwebt lange Zeit zwischen Leben und Tod. Später geht es ihm besser, er humpelt mit seinem Freund Cascade in den Ort, wo sie sich betrinken und die aufgelöste Atmosphäre dieses Städtchens in Frontnähe in sich aufnehmen. Aufmärsche von Soldaten, Franzosen, Engländern, Belgiern: »Widerwärtig, wenn man monatelang die Konvois der Männer und der ganzen Uniformen hat durch die Straßen ziehen sehen wie Würste auf der Fleischbank, Khakis, Reservisten, horizontblau, apfelgrün, auf Karren, die das ganze Hackfleisch zum großen Idiotenmörser hinbugsieren.«

Céline ist kein Rechter, der den Krieg verherrlicht. Er betrachtet ihn aus der Froschperspektive des Underdogs, des ausgelieferten Subjekts. Sein Freund Cascade wird füsiliert, da sich herausstellt, dass er sich selbst verletzte. Ferdinand wird ebenfalls überprüft, er befürchtet Schwierigkeiten wegen der Gesichtslosigkeit des Kriegsapparats, der sich der Menschen bemächtigt. Stattdessen verleiht man ihm eine hohe Tapferkeitsauszeichnung, die auf vorgeblichen Heldentaten beruht, die er nie begangen hat. Am Ende gelingt ihm, dem Krieg zu entfliehen, auf legalem Wege – er begleitet Cascades Ex-Frau, eine Kurtisane, die einen britischen Offizier als Beschützer hat gewinnen können, nach England.

Das Buch, das zwischen 1932 und 1934 entstanden sein soll, ist kein vollends durchgearbeitetes Manuskript. Oft verwechselt Céline die Namen der handelnden Personen und Orte. Und es ist sexuell erheblich freizügiger als Célines früher veröffentlichte Werke. Es fragt sich, ob derartige Passagen damals vielleicht vom Verlag abgeschwächt wurden. Heute ist man da weniger zimperlich. Insgesamt lässt sich der Roman jedoch flüssig lesen, es ist ein vollgültiges Originalwerk Célines und man darf gespannt sein, welche weiteren literarischen Schätze Thibaudats Kiste womöglich noch birgt.

Louis-Ferdinand Céline: Krieg. A. d. Frz. v. Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, 188 S., geb., 24€.

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