Längster Ärztestreik in Großbritannien

Junge Mediziner wollen mehr Geld und einen Inflationsausgleich, damit ihr Job attraktiver wird

  • Sascha Zastiral, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Ärztinnen fordern neben gesellschaftlicher Anerkennung vor allem ein vernünftiges Gehalt.
Ärztinnen fordern neben gesellschaftlicher Anerkennung vor allem ein vernünftiges Gehalt.

Eigentlich haben sich die Menschen in England an den Anblick von streikenden Beschäftigten im Gesundheitssystem gewöhnt. Seit über einem Jahr jagt ein Arbeitskampf den nächsten. Diese Woche ist es wieder soweit: Im ganzen Land stehen seit Mittwoch vor Krankenhäusern Assistenzärzte in Warnwesten auf Streikposten. Der Ausstand sticht dennoch heraus: Er soll ganze sechs Tage dauern. Falls nicht noch eine Einigung gefunden wird, wäre das der längste Ärztestreik in der 75-jährigen Geschichte des Gesundheitsdienstes NHS.

Die British Medical Association (BMA), die zugleich Ärzteverband und Gewerkschaft ist, hat zu den Arbeitsniederlegungen aufgerufen. Sie verlangt für die 46 000 Junior Doctors, die sie vertritt, eine Gehaltserhöhung in Höhe von 35 Prozent. Damit solle in erster Linie der reale Rückgang bei den Gehältern der Assistenzärzte seit 2008 ausgeglichen werden. Inflationsbereinigt verdienten die Junior Doctors heute 26 Prozent weniger als damals, erklärte die BMA. Deren Einstiegsgehalt betrage heute gerade einmal 15,50 Pfund pro Stunde – und das für einen oft denkbar stressigen Job mit enormer Verantwortung.

Angebotene Lohnerhöhung ist nicht ausreichend

Die Regierung in London hat nach früheren Streikwellen zuletzt eine Gehaltserhöhung in Höhe von 8,8 Prozent für die Junior Doctors in Gang gesetzt und weitere drei Prozent angeboten. Der BMA geht das nicht weit genug. Vivek Trivedi, Ko-Vorsitzender des Ausschusses für Assistenzärzte bei dem Verband, stellte jedoch klar, dass die Streikenden die geforderte Gehaltserhöhung nicht auf einen Schlag erwarteten.

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Noch am Mittwoch meldeten Kliniken aus ganz England erheblich längere Wartezeiten für Patienten. Einige teilten sogar mit, dass die Versorgung nicht länger in vollem Umfang geleistet werden kann. Die Regierung von Premierminister Rishi Sunak ließ wissen, dass sie nicht verhandeln werde, solange der Streik andauere. Eine willkürliche Entscheidung, sagte Trivedi. »Das ist eine Regel, die sie selbst aufgestellt haben. Es gibt kein Gesetz, das sie daran hindert, während eines Streiks mit uns zu sprechen.« Ein Ausstand von Strafverteidigern vor wenigen Monaten habe durch Verhandlungen beendet werden können.

Großbritannien spart an der Gesundheit

Großbritannien gibt deutlich weniger Geld für Gesundheit aus als andere vergleichbare Industriestaaten. Und das vor allem seit 2010: Damals setzte der damalige konservative Premier David Cameron gemeinsam mit seinem Schatzkanzler George Osborne einen drakonischen Austeritätskurs in Gang und zwang den gesamten öffentlichen Sektor zu massiven Sparmaßnahmen.

Das angebliche Ziel, ein ausgeglichener Staatshaushalt, wurde nie erreicht. Stattdessen zwang der zutiefst ideologisch geprägte Sparkurs Kommunen dazu, Jugendzentren, Bibliotheken, Sporteinrichtungen und Kindergärten zu schließen. Immer mehr Menschen waren auf Hilfe durch karitative Organisationen angewiesen.

Zwar nahmen Cameron und Osborne im NHS keine direkten Kürzungen vor. Doch das Budget, das seit der Gründung jedes Jahr um etwa vier Prozent erhöht worden war, wuchs ab 2010 inflationsbereinigt im Schnitt nur noch um 1,4 Prozent im Jahr. Wegen der älter werdenden Bevölkerung und der generell schneller steigenden Kosten im Gesundheitssektor kam das einer drastischen Kürzung gleich.

Briten unzufrieden mit Gesundheitssystem

Die Wartezeiten für Patienten wurden länger. Die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem – unter dem Labour-Premier Tony Blair noch bei 70 Prozent – ging rapide zurück. Und die Beschäftigten mussten zuschauen, wie ihr Verdienst real immer weiter schrumpfte.

Innerhalb der Bevölkerung ist die Unterstützung für die Streikenden weiter groß. In einer YouGov-Umfrage im September gaben 45 Prozent der Befragten der Regierung die maßgebliche Schuld an den Streiks, nur 21 Prozent sahen vorrangig die BMA in der Verantwortung. Dessen ungeachtet mehrten sich die kritischen Stimmen. Bemängelt wurde nicht nur die Länge des Arbeitskampfes, sondern auch der Zeitpunkt – genau am Ende der Winterferien. Julie Thallon, Vorsitzende des Verbandes »The Patients Association«, sagte: »Streikaktionen erschweren die Versorgung zusätzlich zu den langen Wartezeiten, mit denen viele Patienten ohnehin schon zu kämpfen haben.« Der Ärger ist nicht unbegründet: 2023 wurden im Gesundheitssystem 1,2 Millionen Termine wegen Streiks verschoben.

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