»Tag XYZ«: Theaterbesetzung und Selbstfindung

Lorenz Just gelingt mit »Tag XYZ« ein humorvoller Roman über Aktivismus und Entfremdung

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 6 Min.
Protest an Architektur: Die Besetzung der Berliner Volksbühne ist auch schon wieder lange her.
Protest an Architektur: Die Besetzung der Berliner Volksbühne ist auch schon wieder lange her.

Ein Theater zu besetzen, scheint nicht so schwer, etwas sinnhaft Neues damit anzufangen aber sehr – zumindest in Lorenz Justs Buch »Tag XYZ«. Auf dem Cover ist ein Besen ohne Stiel abgebildet; das Symbol der unheroischen Frage, die jedes Kollektiv, das mit Räumen etwas anfangen will, irgendwann ereilt: Wer fegt den Staub weg, damit wir uns morgen wieder gerne auf den Boden setzen, wenn das Plenum ansteht?

Lorenz Just, studierter Islamwissenschaftler, geboren in Halle an der Saale und aufgewachsen in Ostberlin, hat bislang einen Roman, einen Band mit Erzählungen und mehrere Stücke geschrieben. Wir folgen in seinem zweiten Prosatext in Buchlänge den Gedanken und Taten eines unfreiwillig unzuverlässigen Erzählers: Kein Metaebenen-Checker spielt hier mit dem Wissen und Nichtwissen der Leserschaft, sondern ein junger Mann – für einen Narren ist er zu wissbegierig, für einen Schelm zu schnell überfordert und unsicher – landet aus Zufall und Langeweile in der ihm fremden und anfänglich auch befremdenden Welt des politischen Aktivismus. Schauplatz ist ein besetztes Stadttheater.

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Brav meldet er sich freiwillig zum Protokoll – und versagt sofort. Er engagiert sich in verschiedenen AGs, plakatiert und versucht hier und da mitzudiskutieren. Von Station zu Station, von Funktion zu Funktion hangelt er sich. Aber die Organisation verschafft ihm keinen festen Platz, geschweige denn ein stabiles Weltbild. Er ist ein Ja-Sager: Im Verlauf der Handlung stellt er sich unter verschiedenen Namen vor, die aber allesamt (eine klangliche Ausnahme wegen fremdsprachlicher Aussprache gibt es) mit »Ja« beginnen. Zusagen, das möchte er aber erst mal nur ganz allgemein, einfach mitmachen bzw. mitspielen, denn der Zweck des ganzen Besetzungsunterfangens soll sich ja im Prozess herausstellen, oder eben gar nicht.

Allerlei schrullige Leute sind beteiligt an der Theaterbesetzung, die zu Beginn des Romans durch eine Art Vorspiel auf dem Vorplatz vorgestellt wird, das einer Meinungsumfrage gleicht. Es finden sich besserwisserische Student*innen, altgediente Aktivisten, die kochen und handwerkeln, Sozialarbeiter auf Abwegen. Ein paar Leute scheinen tatsächlich etwas mit darstellender Kunst zu tun zu haben, bilden aber eine Minderheit. Man lädt sich eine Dozentin ein, die mit ihren Powerpoint-Präsentationen auch Chefetagen coachen könnte. Der Erzähler, so viel wissen wir recht schnell, hat keine Biografie, die er gut vortragen könnte. Außerdem haust er in einer mickrigen Ein-Zimmer-Wohnung.

»Tag XYZ« spielt in einem Stadttheater, aber wo genau das ist, wird nicht explizit genannt. Die Allgemeinheit der Konflikte wird in konkrete Szenen überführt, statt die erzählte Welt mit Lokalkolorit anzupinseln. Immer wieder tauchen Touristen auf, die so eine Aktion an sich erst mal ganz toll finden. Dass wir es mit einer Berlin-Geschichte zu tun haben, dafür gibt es kein Indiz. In der Hauptstadt wurde zuletzt im September 2017 die Volksbühne besetzt. Das Kollektiv »Staub zu Glitzer« zeichnete dafür verantwortlich. Vor wenigen Monaten veröffentlichten einige der Beteiligten übrigens eine Schrift namens »Organizing Cultural Commons« (»Organisation kultureller Gemeingüter«). Auf Praxis folgt die Theorie.

Eine Frage, die sich kritischen, vielleicht auch griesgrämigen Beobachtern damals schon stellte, war die, ob hier eine Gruppe von Leuten Politik macht (also besetzen), um künstlerisch tätig sein zu können an einem Ort, der ihnen sonst andere Regeln auferlegen würde. Oder ob sowieso nur besonders dringlich politisch performt wird, um letztlich in einer Kunst-Institution von Rang und Ruf einen Platz zu finden, um dann im Business as usual selber mit Stelle mitzumischen.

Justs Buch bietet Bewusstseinsströme wie zahlreiche Dialoge, wo allerlei Meinungen und Machtansprüche, die mit dieser Frage zu tun haben, zur Geltung kommen. Der Erzähler mag ohnehin nicht gerne urteilen. Unzufrieden sind die Besetzer natürlich eh schnell, werden »keine Hydra, sondern nur ein Haufen Schlangen«. Die Besetzung, so kommentiert ein »Irgendwer«, sei doch nicht mehr als »geduldete Zwischennutzung«. Den Zerstörungsfantasien eines anderen – »ich will die Holzfurniere von den Wänden reißen, die Samtpolsterungen aufschlitzen, den Marmor zerschlagen« – wird auch nicht weiter zugestimmt. Stellenweise wirkt das Buch wie das Libretto einer möglichen Besetzung.

Die Leute haben allerlei Namen, die entweder wie Abkürzungen, Verballhornungen oder Kosenamen klingen. Man erkennt sich durch Haltungen wieder, Verhaltensarten im Besetzungsdrama; biografische Hintergründe werden maximal angerissen. Man versucht sich, etwas pathetisch ausgedrückt, am Riss in der Zeit durch Aktion, springt nicht durch die Eigenzeiten seines eigenen Lebens.

Im Roman geht es aber auch mal vor die Türe. Das ominöse Außen ist eine Kreuzfahrt, gesponsert von einer reichen einsamen Tante, auf die sich der Erzähler begibt, um dann an Land auf Leute zu treffen, die ihn an zu Hause erinnern, etwa mutmaßlich arabische Männer, die sich für deutsche Philosophie begeistern, mehr als ihm je möglich war. Und dann hat er nicht mal eine Meinung zum Tod Gottes.

Auf einer NGO-Aktivisten-Hochzeit auf dem Dorfe landet der Erzähler auch, wo er sich stoisch allerlei Vorurteile über Deutsche anhört und wo unter anderem die besonders schöne Frage fällt: »Is it true that Germans don’t dream anymore since World War II?« (»Stimmt es, dass die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr träumen?«) Später begibt sich der Erzähler, der sich im Ausland »Jake« nennt, auf eine Odyssee per Bus, um Briefe unbekannten Inhalts seiner mittlerweile verstorbenen Tante allerlei unbekannten Leuten im In- und Ausland zu überreichen, und erfährt manchmal – Gastfreundschaft. Damit tun sich die Aktivisten im Theater schwer. Wie viel fremde Welt und Innenwelt kann eine straff organisierte Besetzung zulassen auf den Brettern, die die Welt bedeuten?

Freundliche Heterogenität und grimmige Verwaltungsmacht, schludrig bestrittene Selbstfindungsfantasien und sich doch nicht so wirklich auf andere und anderes einlassen können, ohne vorgeformte Ansprüche – darum geht es thematisch in »Tag XYZ«. Kurz vor Schluss gesteht der Erzähler: »jetzt wollte ich meine Stimme im großen Saal hören, ich brauchte das: die eigene Stimme irgendwo deutlich hören. genau dafür war es doch da, genau dafür eines Tages errichtet worden, unser Theater, oder hatte ich wieder etwas kolossal falsch verstanden?«

Wer in der Politik auf Stimmenfang geht, erleidet häufig einen Sprachverlust. Das will der Erzähler eben nicht. Das macht ihn irgendwie sympathisch, ohne gefällig zu sein, neutral ohne Null zu sein. In Justs Text gibt es, abgesehen von der bereits genannten Namenspolitik, einige sprachliche Besonderheiten: Etwa unterschiedliche Arten zu gendern; absurde Passagen in eher unbeholfenem Englisch; Sätze beginnen mit kleinen Buchstaben, wenn da kein Nomen steht. Das unterläuft jede sterile Einheitssprache, genauso wie all die langen Sätze, die sich nicht im Schachteln verlieren. Der Erzähler driftet naturgemäß ab, ohne sich selbstgefällig zu lange auszuleuchten.

Herz und Humor, Ernst und Absurdität gibt es. Jede Menge Zwischenmenschliches und Seelisches hat Platz in bzw. am »Tag XYZ«. Vielleicht wünscht man sich das auch fürs große Welttheater. Just gelingt jedenfalls ein kluger, vielschichtiger, aber nie besserwisserischer Konzeptroman, der sich gleichzeitig leicht liest und Spaß macht.

Lorenz Just: Tag XYZ. Spector Books/Volte Books, 272 S., br., 14 €.

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