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  • Zum 100. Todestag von Lenin

Kurzum, Wladimir Iljitsch ist ein Genosse

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn über den Begründer des Sowjetstaates und dessen Erbe

Sie haben zum 150. Geburtstag von Lenin einen Band mit Beiträgen renommierter Wissenschaftler herausgegeben, darunter der französische Philosoph Alain Badiou und dessen deutscher Kollege Michael Brie, aber auch von Aktivisten sowie Zeitgenossen von Lenin, etwa Leo Trotzki und Bert Brecht. Jetzt erscheint unter Ihrer Herausgeberschaft erneut ein Band, diesmal zum 100. Todestag von Lenin am 21. Januar. Wollen Sie den Begründer des Sowjetstaates wiedererwecken?

Ich denke nicht, dass Lenin wiedererweckt werden muss. In vielen Regionen dieser Welt, zum Beispiel in Lateinamerika, war er nie weg und ist in den unterschiedlichsten sozialen Kämpfen weiterhin ein Referenzpunkt. Andererseits stimmt es sicherlich, dass Lenins revolutionäres Werk heute bei einem Großteil der westlichen Linken nicht nur keine Rolle mehr spielt, sondern aktiv verleugnet wird. Das ist ein Fehler. Man mag nicht mit allem übereinstimmen, was Wladimir Iljitsch gesagt und getan hat, aber sich nicht mit ihm auseinanderzusetzen, von seinen Erfolgen und Fehlern zu lernen, verbessert unsere Chancen auf einen Systemwechsel auf keinen Fall. Eine Autorin in unserem neuen Lenin-Band hat dies sehr treffend formuliert: Wir vernachlässigen Lenins Stimme auf eigene Gefahr.

In Ihrem ersten Lenin-Band beschreiben Sie Eindrücke, die Sie in Kirgisien sammelten: Sie waren regelrecht entzückt, dass noch im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums dort Statuen, Denkmäler und Gedenktafeln an Lenin erinnern. Dergleichen Verehrung ist mittlerweile perdu, in ehemaligen Sowjetrepubliken und Russland selbst.

Interview
Joffre-EichhornFoto: privat

Der Deutsch-Bolivianer Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, 1977 in Hamburg geboren, studierte Sozialwissenschaften und ist freischaffender Theatermacher und Publizist. Dieser Tage erscheint beim kanadischen Verlag Daraja Press sein gemeinsam mit Patrick Anderson herausgegebener Band »Lenin. The Heritage We (Don’t) Renounce« über ein Erbe, auf das wir nicht verzichten sollten (364 S., br., 37 $; info@darajapress.com).

Verehrung ist zu viel gesagt, aber in einer Welt, in der sich die Mehrheit der Menschen mit dem absolut inakzeptablen Status quo mehr oder weniger willig arrangiert und sich damit begnügt, dem Kapitalismus bestenfalls nicht besonders gut duftende Blumen anzustecken, bleibt Lenin in der Tat ein Denkmal, das uns dazu auffordert, es schnellstmöglich noch einmal zu probieren, die Welt, im Marxschen Sinne, nicht nur zu interpretieren, sondern sie endlich auch ein für alle Mal zu verändern. Lenin hat an diese Möglichkeit geglaubt und sein Leben dafür gegeben. Wir sollten es auch tun.

Sind Sie ein Leninist?

Ich halte es mit Brechts »Gedenkt unserer mit Nachsicht«. Die in Teilen der Linken heute so selbstgerecht praktizierte, manchmal regelrecht zelebrierte Unwissenheit gegenüber der ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution, ihrer weltweiten Bedeutung und den Personen, die sie gemacht haben, Lenin inklusive, geht mir total gegen den Strich. Ich komme ursprünglich vom Theater der Unterdrückten, wo wir von verinnerlichten Unterdrückungsmechanismen, den sogenannten Polizisten im Kopf sprechen. Zweifellos besteht bei vielen Linken im deutschsprachigen Raum, und nicht nur dort, weiterhin die »Mauer im Kopf«. Soll heißen, bestenfalls sind vielen die Oktoberrevolution, Lenin, die DDR und das K-Wort schlichtweg egal. Schlimmstenfalls werden Anti-Lenin-Kult und Kalte-Kriegs-Propaganda nachgeplappert, ohne jemals ein einziges Wort von Lenin gelesen zu haben; ohne sich jemals aus linker, also aus solidarischer Perspektive, mit ihm und der russischen Revolution, ihren Errungenschaften und Herausforderungen, beschäftigt zu haben. Lenin selbst hätte dieses Handeln wohl als »linke Kinderei« bezeichnet. Für ihn war eine ständige Auseinandersetzung mit allem, was vor ihm kam, eine unverzichtbare Notwendigkeit für seine konkrete Analyse der konkreten Lage und der daraus folgenden Aktionen. Kurzum, Lenin ist ein Genosse.

Auch zu Rosa Luxemburg haben Sie publiziert – mit »Briefen« von Nachgeborenen an sie. Lenin und Rosa schätzten einander und waren doch auch über Kreuz. Kann man sich für beide gleichermaßen enthusiasmieren, ohne den einen oder die andere zu »verraten«?

Absolut. Auch Rosa Luxemburg ist eine Genossin, die im ZK unserer Vorkämpfer*innen sitzt, von denen wir nur lernen können, was zu tun oder eben manchmal auch nicht zu tun ist. Meines Erachtens sind es just die real existierenden Widersprüche im Denken und Handeln unserer revolutionären Vorfahren, die bei uns den größten Enthusiasmus hin zu einer kritisch-solidarischen Wiederaneignung im Kontext aktueller Ausnahmezustände hervorrufen sollen. Frei nach Walter Benjamin könnte man sagen, dass niemand, der für eine sozialistische Welt gekämpft hat, für die Nachgeborenen verloren gehen sollte.

Ihr neuer Lenin-Band versammelt 100 Autoren – beeindruckend. Wer befindet sich darunter? Worin unterscheidet sich dieser vom ersten? Was sind die vorrangigen Themen? Und warum ist ein Wort im Titel in Klammern gesetzt: Dont?

Beide Bücher sind Jubiläumsbände, der eine zum 150. Geburtstag Lenins und der in Kürze erscheinende zum diesjährigen 100. Todestag. Sie ähneln sich konzeptionell, als dass sie beide bewusst internationalistischer Natur sind, verschiedene Formate und Schreibstile – wissenschaftlich, journalistisch, künstlerisch, persönlich-politisch – enthalten und einen aktivistischen Anspruch haben, der sich in der Vielzahl der unterschiedlichen Themen widerspiegelt. In beiden Bänden schreiben Genoss*innen von allen Kontinenten, basierend auf ihren konkreten Erfahrungen des politischen Kampfes in ihren jeweiligen Kontexten. Und es geht eben nicht nur darum, sich rein akademisch oder geschichtlich mit Lenin auseinanderzusetzen, sondern herauszuarbeiten, welche seiner Gedanken und Taten uns heute wieder von Nutzen sein können. In diesem Sinne ist auch der Titel des neuen Bandes zu verstehen, inspiriert von Lenins Text aus dem Jahr 1897: »Auf welches Erbe verzichten wir?« Die Botschaft der mehr als 100 Autor*innen aus über 50 Ländern – von Afghanistan bis Simbabwe – ist klar: Wir sind nicht bereit, auf das Erbe Lenins zu verzichten. Er hat uns das Vermächtnis sozialistische Revolution hinterlassen, und es ist an uns, es im 21. Jahrhundert, trotz alledem, wieder in die Tat umzusetzen.

Anfang der 90er Jahre verkündete ein bekannter, mittlerweile verstorbener CDU-Politiker, Norbert Blüm: »Marx ist tot, es lebe Jesus!« Lenin ist in deutschen Landen noch toter als Marx. Und Sie hoffen trotzdem, einen Verleger zu finden, der Ihr neues Buch in Übersetzung auf den deutschen Buchmarkt bringt? Sind Sie ein unverbesserlicher Optimist?

Eher ein tragischer, störrischer Optimist. So ganz leicht, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, fällt es mir bei, mit Verlaub, all der Scheiße um uns herum natürlich nicht. Im Gegenteil. Aber der Kampf muss und wird weitergehen, und wenn man sich so umguckt in der Welt, dann gibt es eben nicht nur Ausbeutung, Krieg, Klimakatastrophe und Rechtspopulismus, sondern auch unzählige Menschen, die sich jeden noch so bescheidenen Tag aus dem Bett quälen und gemeinsam mit anderen dem System die Stirn bieten.

Resignation ist individuell total nachvollziehbar, aber kollektiv keine Option. Erinnert sei übrigens an jenen Lenin, der kurz vor der Februarrevolution im Schweizer Exil ebenfalls so seine Zweifel hatte, ob er die Revolution noch erleben würde, trotzdem weiter gewühlt hat, und dann ging auf einmal die Post ab. Vielleicht müssen Zweifel und Hoffnung immer zusammengedacht werden, damit die ständige Mobilisierung in der politischen Aktion und somit die Revolution möglich werden und bleiben, zumindest während der Herrschaft der von Brecht so ergreifend beschriebenen »dunklen Zeiten«.

Lenin selbst sagte einmal: »Es ist nicht schwer, dann ein Revolutionär zu sein, wenn die Revolution bereits ausgebrochen und entbrannt ist ... Viel schwerer – und viel wertvoller – ist, dass man es versteht, ein Revolutionär zu sein, wenn die Bedingungen für einen direkten, offenen, wirklich von den Massen getragenen, wirklich revolutionären Kampf noch nicht vorhanden sind.« Recht hat er. Und in diesem Sinne war, ist und bleibt Lenin ein Mutmacher und Hoffnungsträger für eine zukünftige Gesellschaft, auf deren Fahne stehen wird: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«

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