Vom Seemann zum Sehmann

Vor 100 Jahren wurde der Reporter Walter Kaufmann geboren – eine filmische Hommage erinnert

  • Hans Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Abenteuer? Heutzutage? Wie nehmen wir Welt noch wahr? Per Flugzeug überqueren wir eilig und teilnahmslos Kriegsfelder, Katastrophengebiete, Hungersavannen. Der fliegende Passagier weit droben sorgt sich höchstens ums Service-Niveau und bangt um den Anschlussflug. Die Verzwergung der Reise zum Transport – sie hat sämtliche Ufer und Fernen einander nähergebracht. Immer mehr Menschen verfallen der fatalen Besessenheit, Abenteuerkunst sei als Sonntagstourismus nachahmbar.

Leben und Werk des Reporters Walter Kaufmann, am 19. Januar 1924 geboren, 2021 gestorben: Das Unterwegs wurde sein Schicksal – und sein Beruf. Ruhrpott, London, Australien (»dort durchfuhr mich der Schreck dieser großen, großen Entfernungen«), schließlich DDR. Aber eigentliche Heimat blieb ihm die Welt. Und das Schreiben darüber. Von Japan bis New York, von Rio bis Kalkutta. Bei Kriegsausbruch 1939 war er ein halbwüchsiger Emigrant, dann feindlicher Ausländer, dann australischer Arbeitssoldat; er wurde Wäschereifahrer, Hafenarbeiter, Hochzeitsfotograf, 1956 Olympia-Attaché der gemeinsamen deutschen Mannschaft in Melbourne.

Jede gute Reportage gemahnt: Immer nur in den eigenen Wänden zu bleiben – das wäre Villa Verfolgungswahn. Und es ist ja wahr, zu Hause bin ich mir zu nahe, und Rechthaberei wie Borniertheit summieren sich womöglich zu einer deprimierenden Last. Nach der Lektüre Kaufmanns weißt du etwas mehr von der Wohltat, in Abständen dorthin zu fahren, wo man nicht hingehört. Und dort zu bleiben, bis man sich selber ein wenig fremd wird. Ganz ohne Entfernung geht Dasein nicht.

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Der jüdische Vater Kaufmanns war ein deutschstolzer, gut situierter Anwalt in Duisburg, dem die Nazis plötzlich die Teilnahme an der Einweihung eines Kriegerdenkmals verweigern. Schock, Unglauben, langsam sickernde Erkenntnis: böse Zeiten. Als die Synagogen brennen, das Elternhaus verwüstet wird, steigt Walter aus dem Keller, sieht an einer Zimmerwand noch ein einsames schönes Gemälde: »Zwei Frauen im Regen«. Schmettert es auf den Boden: »Schönheit, dachte ich, die hat hier nichts mehr zu suchen!« Unerklärlich bleibt ihm lange, warum die – wohlhabenden! – Eltern nicht rechtzeitig emigrierten.

Als Kaufmann Mitte der 50er Jahre nach Duisburg zurückkehrt, trifft ihn Antisemitismus, der sich windet: Jaja, man wisse, die Eltern seien damals »verreist«. Stimmt, sie verreisten – nach Auschwitz. Kaufmanns Entschluss: Nur fort aus diesem noch immer tiefbraunen Westdeutschland!

Was ihn anzieht, ist die Aufbaulust im Osten. Eine ehemalige Sekretärin des Vaters, »eine Frau mit steifem Blick«, übergibt ihm beim Abschied noch eine zurückgelassene Akte, darin ein Adoptionsbescheid: Die Eltern waren gar nicht die leiblichen. Schock. Erstarrung, Verwirrtheit. Dann die innere Sammlung – fortan sucht er hartnäckig seine Mutter, eine polnische Jüdin; er verfolgt den Weg akribisch bis in Berlins graue, niedere Mulackstraße. Der Reporter betreibt Recherchen in eigener Sache – aber nie erfährt er das Schicksal jener Frau, die ihn in diese Welt brachte.

Denke ich an die Lebensgeschichte des Schriftstellers, denke ich an Volker Brauns Gedanken über das 20. Jahrhundert: »Kamen dessen Verwirklichungen nicht Verwüstungen gleich, hat es nicht die Ideen verbraucht wie die Leiber oder, schlimmer gesagt, die Ideen realisiert, indem es die Leiber verbrauchte?« Kaufmann blieb trotz oder wegen seiner Erfahrungen ein Hoffender, ein Aufrechter, ein Solidarischer. Der kräftige Kerl muss zu allen Zeiten immer auch ein Kraftcharmeur gewesen sein; und seine Reiseliteratur war für die Leserschaft in der beengten DDR eine Chance zur empathischen Überhöhung der eigenen Zeitgenossenschaft.

Als Reporter war er ein Künstler der Verknüpfung von Weltläufigkeit in den Reisezielen und Welthaltigkeit im Menschen-Bild. Die Bücher »Im Fluss der Zeit. Auf drei Kontinenten«, »Meine Sehnsucht ist noch unterwegs. Ein Leben auf Reisen« beweisen das. Sein Arbeitsprinzip? Vorsichtig herangehen ans »Herz der Dinge«. Wo das seelisch und sozial Hochfliegende und Abgründige zu finden ist. Vertrauen war wohl das Schlüsselwort zwischen diesem Reporter und seinen Gesprächspartnern. In politischen Brennpunkten wie Nordirland. Beim Prozess gegen die US-Bürgerrechtlerin Angela Davis; 1972 ist er als Berichterstatter dabei, wird Zeuge ihres Freispruchs. Bewegend die Geschichte vom israelischen Panzeroffizier, der Zeuge eines palästinensischen Selbstmordattentats wird, sich in dieser Erschütterung selber degradiert und fortan verstört auf die Suche nach dem Denken und Fühlen seiner (vermeintlichen) Feinde geht.

Nach dem Zusammenbruch des SED-Staates wollte er, im ersten erschrockenen Reflex auf die politische Alt-Neuordnung, zurück nach Australien. An einer Berliner Hauswand sah er einen Galgen aus Kreide, am Strick ein Schild mit dem Namen Gregor Gysi. Deswegen: weg! Nein, deswegen: »Ich bleibe!« Kaufmann blieb in Deutschland, blieb seiner Familie und seiner Art treu: diesem Trotz, dieser gestählten Grundhaltung, den verfluchten Dingen ins Gesicht zu sehen.

Ein Roman erfindet Leben. Die Reportage findet es. Warum interessiert uns gefundenes Leben? Weil wir selber suchen – und zwar erfolglos? Du siehst ihn nicht, den Fluss der Geschichte, der dich mitreißt, umherwirbelt, irgendwohin schwemmt – aber dies Dilemma vermittelt uns jeder gute Report als kitzelnde Erfahrung. Seume, Bechstein, Dumas, Kisch, Troller, Granin, Hemingway, Chatwin, Kapuściński, Nooteboom, Gauß, Stasiuk, Koeppen, Büscher, Villain, Scherzer. Auch Kaufmann.

Im englischen Internat hatte der 15-jährige Fantast einst allen Mitschülern von seinen Reisen nach Indien, Afrika und in andere exotische Länder vorgeschwärmt. Bis einer sagt: Lüge! Ein »Schülergericht« tagt, spricht die Strafe aus: Prügelei mit einem Stärkeren aus der Gruppe. Kaufmann, besiegt, blutend, aber bockig: »… und eines Tages seh ich sie doch, die ganze Welt!«

Und er sah sie! Er hatte in seinem Leben die Hände im Maschinenöl, er schlief bei Obdachlosen, er kannte den Dreck verschiedenster Verhältnisse. Am liebsten strich er in seiner Zeit als Matrose die Außenhaut des Schiffes an. In der Seefahrt heißt das »pönen«. Er bemalte gern die Schornsteine. Er pönte, und sie nannten ihn Picasso. Picasso, der Seemann. Walter Kaufmann, der klarsichtige Erzähler: ein Sehmann.

Im Berliner Kino »Toni« läuft an diesem Freitag, 19.1., um 18 Uhr »Walter Kaufmann. Welch ein Leben!«, ein Dokumentarfilm (2021) von Karin Kaper und Dirk Szuszies.

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