Wie bekämpft man Antisemitismus?

Unnachgiebige Aufklärung und ein Entgegentreten mit allen Machtmitteln – dies empfahl Theodor W. Adorno 1962 »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«

Rechte Netzwerke planen die Deportation ganzer Bevölkerungsteile aus Deutschland und der AfD werden enorme Wahlerfolge prognostiziert. Währenddessen schaut die liberale Öffentlichkeit schockiert, aber ratlos zu. Von links kann man sich noch mit der Einsicht trösten, dass Faschismus und Regression eben dem Kapitalismus auf den Fuß folgen – jenem System, dass sich ja bekanntlich selbst auffrisst und die Menschen in mindestens gefühlter Existenznot vor lauter Ohnmacht nach Führer und Heimat rufen lässt. Zeitgleich kommen aber Linke auf die Idee, wie jüngst im Video einer Veranstaltung zum Martin Luther King Day des New Yorker The People’s Forum zu sehen war, den »Staat Israel final zerstören« und »aus der Geschichte löschen« zu wollen, weil dies der aktuell »wichtigste Schlag gegen das globale Kapital« wäre.

Ob man nun also die AfD verbieten, die Zivilgesellschaft endlich gegen rechts aufstehen müsse oder ob der Staat das Bekenntnis zur Israel-Solidarität einfordern soll – guter Rat ist momentan teuer. Da kommt es scheinbar wie gelegen, das »kritische Gewissen der jungen Bundesrepublik Deutschland« befragen zu können, wie Theodor W. Adorno in einer Arte-Dokumentation angekündigt wurde. Der Suhrkamp-Verlag brachte daher jüngst Adornos Vortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« als kleinen Band heraus.

Das Überdauern des Antisemitismus

Die Motivation zu dieser Publikation benennt der Verlag damit, dass Adornos Ausführungen, die er im Herbst 1962 auf einer Tagung des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit präsentierte, »nichts an Aktualität eingebüßt« hätten. Im Sommer 2019 hatte Suhrkamp erstmals einen Vortrag von Adorno zu »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« ausgekoppelt, weil dessen Analyse von 1967 sich laut dem Nachwort von Volker Weiß »wie ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen liest«. Der Band schaffte es auf die Bestsellerlisten und das Feuilleton war begeistert angesichts Adornos Erklärungskraft.

Aktuell ist nicht nur der (wieder)erstarkte Antisemitismus, sondern auch die Ohnmacht der liberalen Gesellschaft gegen die Zerrüttung durch ihre eigenen Widersprüche. Die Hinwendung zur Autorität Adornos ist mindestens ein Symptom dieser Hilflosigkeit und, wie Jan Philipp Reemtsma in seinem Nachwort zur aktuellen Publikation festhält, der »Wunsch, etwas ›erklärt‹ zu bekommen, ist der Wunsch nach Beruhigung«. Allerdings hat Adornos Vortrag im besten Sinne eher nichts Beruhigendes: Als Allererstes warnt er davor, den Antisemitismus als ein isoliertes Phänomen anzusehen, das sich einfach so ausmerzen ließe oder nur Einzelpersonen betreffe. Antisemitismus sei vielmehr der Name für jene übergreifende Tendenz, der Ohnmacht gegenüber einer systematisch widersprüchlich eingerichteten Gesellschaft entkommen zu wollen, indem alles Übel auf einen konkret zu vernichtenden Feind projiziert wird. Im Antisemitismus ist nicht alle Regression und faschistische Neigung aufgehoben, aber er funktioniert wie der Kitt zwischen den verschiedene Ideologemen. Er ist »eine Planke in einer Plattform«, wie Adorno sagt, die sich »bewährt als Mittel, das die sonst sehr divergierenden Kräfte eines jeden Rechtsradikalismus auf die gemeinsame Formel zu bringen geeignet ist«.

Als solcher existiert er in der Gesellschaft eben nicht erst als eliminatorischer Wahn der industriellen Massenvernichtung von Menschen. Er überdauerte als »sekundärer Antisemitismus«, als vererbte Vorurteilsstruktur, als Ideologie der Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr, als »Krypto-Antisemitismus« in Form von »Tuscheln« und dem »Gerücht über die Juden«. Er dient der Projektion, die Widersprüche von sich fern halten zu können und sich noch dort als ganz und heil zu fantasieren, wo die Welt in Scherben liegt. Wer sich »dem Gerücht zuwendet, wirkt von vornherein so, als ob er einer heimlichen, wahrhaften und (…) unterdrückten Gemeinschaft angehörte« und kann sich als Opfer und potenzieller Sieger zugleich fühlen.

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Die Attraktivität solcher Identifikationsangebote wird erst verständlich vor dem Hintergrund einer »autoritätsgebundenen Charakterstruktur«, über die es in Adornos »Studien zum Autoritären Charakter« heißt, dass sie »niemals vom gesellschaftlichen Ganzen isoliert werden kann«. Entsprechend komme man dem Antisemitismus weder als psychologischem Phänomen noch als bloßer menschenfeindlicher Einstellung auf die Spur, sondern strenggenommen nur mit einer umfassenden Gesellschaftstheorie. Für die »Elemente einer Gesamt-Theorie des Antisemitismus« verweist Adorno daher auf die »Dialektik der Aufklärung«.

Erziehung zur Mündigkeit

Diese explizit gesellschaftstheoretische Fassung des Antisemitismus hat selbstredend Konsequenzen für dessen Bekämpfung. Wie Reemtsma betont, »sagt Adorno denen, die ihm zuhören, die Frage der Bekämpfung des Antisemitismus sei keine, auf die es pädagogische Antworten gibt«. Adorno unterscheidet trotzdem einige akute und langfristige Maßnahmen. Auf lange Sicht müsse es darum gehen, »in der Erziehungssphäre (…) möglichst zu verhindern, daß sich so etwas wie ein autoritätsgebundener Charakter bildet«. Adorno sieht hier den »manipulativen Charakter« als besonders virulent, »jene pathisch kalten, beziehungslosen, mechanisch verwaltenden Typen«, die von frühkindlicher Erfahrungen von Kälte und fehlender Zuwendung geprägt sind. Er empfiehlt dagegen Aufmerksamkeit in Kindergarten, Einwirkung auf die Eltern und ein Abfangen jenes »Schock-Moment« beim Eintritt in die Schule, wo »man zum ersten Mal in eine Sekundär-Gruppe eintritt, die einem fremd und kalt gegenübersteht«.

Interessanter als die notwendig abstrakten pädagogischen Anregungen sind jedoch Adornos Ausführungen zu der Haltung, mit der man Antisemiten akut entgegentreten sollte. Immer wieder betont er, man dürfe diesen nicht auf dem Terrain begegnen, auf das sie einen ziehen: Wenn Antisemiten über die genaue Anzahl ermordeter Juden und Jüdinnen diskutieren wollen und damit ultimativ den Holocaust relativieren, wenn Sie raunen, es müsse ja an jedem Vorurteil auch etwas Wahres dran sein und damit jüdischen Menschen die Schuld an ihrer eigenen Vernichtung zuschieben, oder wenn sie darauf verweisen, dass Juden ja wirklich viel mit Geldgeschäften zu tun hätten und damit ihren Hass auf die warenförmig eingerichtete Gesellschaft personalisieren – immer bedürfe es der unnachgiebigen Konfrontation mit gesellschaftlicher Aufklärung. Adorno besteht darauf, »daß man nur dann wirksam gegen den Antisemitismus sprechen kann, wenn man die Wahrheit sagt …, anstatt sich auf billige Widerlegungen zu beschränken«. Im Umkehrschluss bedeutet dies: »Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zu Aufklärung zweideutig sich verhält«.

Den tieferen Zusammenhang benennt Adorno damit, dass sich Antisemitismus gegen Aufklärung selbst richte, gegen Intellekt und Abstraktion. Er sei »ein Massenmedium; in dem Sinn, daß er anknüpft an unbewußte Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, anstatt sie zum Bewußtsein zu erheben und aufzuklären«. Der Struktur nach entspreche Antisemitismus der »Ontologie der Reklame«, also genau jener Falschheit, gegen die damit vermeintlich aufbegehrt werden soll. Man dürfe ihm daher nicht selbst werbeförmig begegnen, mit stereotypen Argumenten oder gar mit rührseligen philosemitischen Klischees.

Antisemiten, kurz gesagt, seien nicht zu überzeugen, sondern zu bekämpfen. Da es zur Grundstruktur der Antisemiten gehöre, sich gegen Erfahrung abgedichtet zu haben und prinzipiell »unansprechbar« zu sein, »müssen die wirklich zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne Sentimentalität angewandt werden«. Schließlich sei Autorität das einzige, was ihnen imponiere. In Bezug auf gegenwärtige Diskussionen um Demonstrations- oder gar Parteiverbote ist das zumindest eine konsistente Haltung.

Gegenmittel Aufklärung

Vor allem aber zeigt Adorno das größte Problem mit der Bekämpfung heute: Im postfaktischen Zeitalter mit einer Theoriebildung, der die Unbestimmtheit des Sozialen als Weisheit letzter Schluss gilt, ist Wahrheit zu einem umkämpften bis unmöglichen Begriff geworden. Ehrlicherweise liegt hier ein Hinweis darauf, wie auch in linken Weltbildern Aufklärungskritik und antisemitische Projektionen zusammengehen. Anstatt einer wirklichen Analyse wird heute lieber um Definitionen von Antisemitismus gestritten, »sich auf irgendwelche Fakten und Daten, die nicht absolut sicher sein sollen« konzentriert und Relativierung von Antisemitismus bis zur Schuldumkehr betrieben.

Die Bekämpfung von Antisemitismus und faschistischen Tendenzen hat keine Chance, wenn die Gesellschaft, mit der wir es zu tun bekommen, nicht durchdrungen, analysiert und also in ihren materiellen Grundlagen aufgeklärt wird. Das wäre ja die Bedingung, jene Verhältnisse so zu verändern, dass Menschen darin »ohne Angst verschieden sein können«, wie es bei Adorno andernorts heißt. Sein gesprochenes Wort mag deshalb so sehr imponieren, weil sich alles darin auf ein Lebenswerk der gesellschaftstheoretischen Analyse stützt. Dies als Autorität anzurufen ist der schlechte Ersatz dafür, eine solche Analyse für die Gegenwart zu leisten – und damit Teil des Problems. Adorno stellt seinem Vortrag selbst die Skepsis voran: »Darin, daß allerorten die Tendenz besteht, die freie Rede (…) auf Band aufzunehmen und dann zu verbreiten, sieht er selber ein Symptom jener Verhaltensweise der verwalteten Welt.«

Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Suhrkamp, 87 S., 10 €.

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