LGBTQ+: Es geht um Loyalität, nicht Sexualität

Russische Homophobie ist nicht, was sie zu sein scheint

  • Fedor Agapov
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit dem 10. Januar sind die Aktivitäten der »Internationalen LGBT-Bewegung« in Russland offiziell verboten. Dass es diese »Bewegung« als Organisation gar nicht gibt, ist für den Gesetzgeber kein Problem. Wichtiger sind die vagen Formulierungen, mit denen jeder als Teil der LGBTQ+-Bewegung bezeichnet werden kann. Ein beliebter Kniff, der dem Staat freie Hand gibt, jederzeit unbequeme Personen zu unterdrücken.

Russland, so scheint es, setzt mit dem Verbot seinen konservativen Weg fort, wird immer mehr zum Hort von Patriarchat und Widerstand gegen moderne westliche Werte. Das mag für die Regierung stimmen. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass die Situation durchaus komplexer ist.

Russen halten an Hierarchie fest

Russland hat mit vielen Problemen zu kämpfen, die nur wenig mit dem Bild einer konservativen Gesellschaft übereinstimmen: Nach Berechnungen des Demografen Alexej Rakscha wurden noch nie zuvor in der 20-jährigen Herrschaftszeit Wladimir Putins so wenige Kinder geboren wie 2023. Demgegenüber stehen eine hohe Zahl an Abtreibungen und eine der höchsten Scheidungsraten der Welt. Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche verliert an Zuspruch. Nach Angaben des Innenministeriums ging gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung an Weihnachten in die Kirche.

Urbane, nicht religiöse, kinderlose Menschen, die sich scheiden lassen – das ist keine Anti-Utopie von Rechtsextremisten, die sich um den Niedergang der westlichen Zivilisation Sorgen machen. Es ist das Russland von heute. An einem »konservativen« Wert halten die Russen jedoch fest: der Hierarchie. Insbesondere, wenn es sich um die Hierarchie zwischen Vertretern der Staatsmacht und dem Rest der Gesellschaft handelt.

Russische Politikwissenschaftler bezeichnen diese Hierarchie häufig als die Machtvertikale. Gemeint ist die Politik Wladimir Putins, deren Kernstück darin besteht, die zentrale Macht im Land zu konsolidieren und regionale Eliten sowie die politische Opposition zu schwächen. Wichtig dafür sind Beamte, die der Linie des Präsidenten bedingungslos folgen und auch ihre Untergebenen dazu zwingen. Russlands Regierung will mit der Vertikale vor allem eines: Die horizontalen Bindungen zwischen den Bürgern zerstören, die theoretisch zum Widerstand gegen die Machtstruktur führen könnten und damit den Staat in seiner jetzigen Form gefährden.

Offenheit und Gleichheit widerspricht den Idealen der Regierung

An dieser Stelle gerät Putins Regierung in Konflikt mit den Idealen der LGBTQ+-Gemeinschaft. Für sie ist jede Beziehung zwischen Menschen akzeptabel, solange sie mit der Vorstellung von Offenheit und Gleichheit übereinstimmt. Und genau dies und nicht ihre Toleranz gegenüber verschiedenen Formen der Sexualität ist es, was die russische Regierung am meisten erschreckt. Schließlich wird damit ihre Grundlage infrage gestellt.

Die Angst vor horizontalen Strukturen erklärt die »homophobe Wende«, die Russland in der zweiten Hälfte von Putins Amtszeit vollzogen hat. Beispielhaft für diese Entwicklung steht die Band »t.A.T.u«, die mit lesbischen Untertönen in ihrer Musik große Erfolge feierte. Seit 2008 gibt es mit dem »Side by Side« zudem ein Filmfestival, das Raum für Diskussionen und den Dialog über Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität schaffen sollte. Später begannen die Behörden, solche Initiativen zu unterdrücken, da sie in ihnen nicht nur eine Bewegung für sexuelle Freiheit sahen, sondern auch die tiefere politische Bedeutung.

Rufe nach Freiheit sind in Russland Extremismus

Letztlich ist es wichtig zu erkennen, dass die russische Regierung im Bezug auf die »sexuelle Freiheit« die »Freiheit« bekämpft und nicht deren »sexuellen« Inhalt. Das heißt, seltsamerweise sind die Leute in der russischen Regierung nicht so homophob, wie sie scheinen. So ist etwa einer der führenden Propagandisten Russlands, Anton Krasowskij, offen schwul. Dennoch stellt er sich nicht offen gegen den konservativen Weg der Regierung. Und wenn sich morgen herausstellen würde, dass einer von Putins engsten Vertrauten schwul ist, würde auch nichts passieren: die Medien würden höchstens ein paar Tage lang darüber diskutieren, das wär’s.

Das Wichtigste an Putins Beamten ist ihre Loyalität. Und gerade die fehlende Loyalität der LGBTQ+-Bewegung gegenüber einer starren vertikalen Hierarchie sowie ihre Forderungen nach Horizontalität und Gleichheit in den menschlichen Beziehungen haben zu den aktuellen Repressionen geführt. Das verwundert kaum, sind doch Rufe nach Freiheit in einer Diktatur eigentlich eine Art des Extremismus.

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