»Alles geschieht mit Gewalt«

Ein faszinierendes Opern-Monster: »Die Soldaten« von Bernd Alois Zimmermann in Hamburg

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 10 Min.
Für Zimmermann sind »Die Soldaten« eine barbarische Truppe eigenen Rechts, nicht nur im Krieg, sondern gerade auch im »zivilen«.
Für Zimmermann sind »Die Soldaten« eine barbarische Truppe eigenen Rechts, nicht nur im Krieg, sondern gerade auch im »zivilen«.

Ein brüllender, dissonanter Orchesterlärm erfüllt den Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie gleich in den ersten Takten von Bernd Alois Zimmermanns »Die Soldaten«. Die Pauken geben einen mitunter gebrochenen Marschrhythmus vor, zu dem die Sänger*innen dieses Stücks nach und nach auf die Bühne marschieren.

Es ertönt eine aggressive, durch alle Instrumentengruppen stürmende, wilde Zwölftonmusik, die Holzbläser kreischen, die Streicher spielen verrückte Akkorde, die sich vom zweifachen zu einem dreifachen Fortissimo steigern, und wenn diese kakophonischen Klänge einmal abgedimmt werden, durchbrechen Vibraphon und Glocken mit Fortissimo-Aufschreien den Sound, der sich immer wieder aufs Neue auf- und abschwingt in einem furiosen Preludio. Hier wird die Fährte gelegt, die in den folgenden zwei Stunden zu harscher Brutalität führt: Diese Soldaten sind nicht nur wie bei Tucholsky »alle Mörder«, sondern sie sind ein entgleister, roher, bigotter Haufen jenseits aller Zivilität – eine barbarische Truppe eigenen Rechts, nicht nur im Krieg, sondern gerade auch im »zivilen« Dasein.

Bernd Alois Zimmermann hat in den Jahren 1958 bis 1965 eine Art Gesellschaftsdrama als Oper geschrieben, eine Studie über eine entgleiste Gruppe, das Militär – ein Mahnmal in der Zeit der deutschen Wiederbewaffnung, deren entschiedener Gegner Zimmermann war, der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs als Soldat miterlebt hatte und an einer Kontamination mit giftigen Kampfmitteln litt, die zu einer schleichenden Erblindung führte. Calixto Bieito hat aus dieser zunächst als »unaufführbar«, später als »unspielbar« diskriminierten Oper ein »inszeniertes Konzert« erarbeitet, das die Musik noch mehr in den Mittelpunkt stellt, als es als auf einer Opernbühne möglich wäre, was nicht zum Nachteil der Aufführung gerät.

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1958 erhielt Zimmermann von der Stadt Köln den Kompositionsauftrag für diese Oper nach dem gleichnamigen Drama des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Es wurde eine aktweise »Lieferung« der Oper vereinbart, und der Komponist stellte die ersten beiden Akte vertragsgemäß bis Neujahr 1960 fertig. Doch bereits wenige Tage später teilte der damalige Generalintendant Kölns mit, »dass man sich nicht in der Lage sähe, das Werk zum geplanten Termin Juni 1960 herauszubringen« (Zimmermann in einem Brief 1963). Gleichzeitig wurde das Werk von den Dirigenten Sawallisch und Wand diskreditiert; insbesondere Günter Wand intrigierte massiv gegen diese Oper, was umso mehr ins Gewicht fiel, weil Wands »Einfluss damals auf das Gürzenich-Orchester ein ganz entscheidender war: Er hatte kurz vorher bei der Stadt erwirkt, dass alle Musiker des Orchesters Beamte wurden«, erinnert sich sein Sohn Peter Wand, und da war das Diktum Günter Wands gegen die »Soldaten«, die er für einen ästhetischen Irrweg hielt, natürlich für das dankbare Orchester gewissermaßen bindend. Das Orchester war aber »sowieso ganz radikal ablehnend in der Mehrheit«, berichtet der Uraufführungsdirigent Michael Gielen: »Besonders ablehnend waren die Blechbläser, die alle im ›Dritten Reich‹ erzogen worden waren und danach nichts dazugelernt hatten. Radikal ablehnend gegenüber allem, was dissonant ist.« Ausgerechnet die Blechbläser, denen Zimmermann grandiose Partien komponiert hat! Hier zeigt sich erneut eine bornierte Kölner Aufführungs-Verhinderungs-Tradition, wie sie bereits 1926 vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, dem späteren Bundeskanzler, mit dem Verbot von Bartóks »Der wunderbare Mandarin« nach dessen Erstaufführung praktiziert wurde.

Auch in den 1960er Jahren war »die Gesamtatmosphäre der Stadt Köln außerhalb des WDR eine kulturell negative, eine nicht-kulturelle« (Gielen). Zimmermanns Werk war fürs erste blockiert; dem Komponisten blieb als Reaktion nur: »Streik als Mittel zur Wahrung von Würde und Wert des Werkes und der Person, die es schafft.« Erst mit der Nennung eines verbindlichen Aufführungstermins setzte Zimmermann 1963 seine Arbeit an der Oper fort. Mit einer ausgesprochen erfolgreichen konzertanten Aufführung von »Drei Szenen« im Großen Sendesaal des WDR im selben Jahr war der Bann der »Unaufführbarkeit« gebrochen, und schließlich konnte die Oper im Februar 1965 doch noch uraufgeführt werden – nicht zuletzt auch dank der Kompromissbereitschaft Zimmermanns, der vor allem Taktstriche durch seine Partitur gezogen hatte, was Dirigenten und Orchester die Aufführung erleichterte.

Zimmermann hatte das Ideal der »Oper als totales Theater«: »Architektur, Skulptur, Malerei, Musiktheater, Sprechtheater, Ballett, Film, Mikrophon, Fernsehen, Band- und Tontechnik, elektronische Musik, konkrete Musik, Zirkus, Musical und alle Formen des Bewegungstheaters treten zum Phänomen der pluralistischen Oper zusammen.« Und seine »Soldaten« können als Modell dieser Forderung gelten. Zimmermann hat ein faszinierendes Monster erschaffen – eine Partitur, die von allen Beteiligten ungeheure Fertigkeiten verlangt. Die Oper ist in der Zwölftontechnik durchkomponiert, wobei sich Zimmermann einer Allinterval-Zwölftonreihe bedient.

Außerdem verwendet er bis zu 13 Instrumentengruppen, die in »Zeitschichten« agieren. Hier kommt Zimmermanns Konzept der »Kugelgestalt der Zeit« zum Zuge. Danach ist die Gegenwart nicht nur ein Punkt auf dem Zeitstrahl, sondern sie enthält auch die Vergangenheit, die in den Menschen und ihren Handlungen bestehen bleibt, sowie die Zukunft, die bei allem, was wir tun, immer mitgedacht wird. In Zimmermanns Worten: »Wir sind darin ständig verwickelt, in der rotierenden Kugel der Zeit ständig Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft begegnend.« Die Gegenwart erscheint als eine »Situation, die von der Zukunft her die Vergangenheit bedroht«. Auch im Schauspiel von Lenz sind die drei klassischen Einheiten von Zeit, Raum und Handlung bereits zugunsten einer »Einheit der inneren Handlung« aufgehoben. In der modernen Opernpraxis bedeutet das: Simultanszenen. In der einen Szene liest Stolzius einen Brief, den Marie in der anderen gerade erst schreibt, und beide Vorgänge werden in einer dritten Szene zeitgleich kommentiert.

Man kann von Zimmermanns »Soldaten« nicht sprechen, ohne an Alban Bergs »Wozzeck« zu denken. Es gibt eine Vielzahl von Bezugspunkten: So wie Büchner sich intensiv mit Lenz auseinandergesetzt hat (und über diesen eine wegweisende Erzählung geschrieben hat), so war für Zimmermann Bergs etwas mehr als vierzig Jahre zuvor komponierte Oper immens wichtig. Beiden Opern liegt ein sorgfältiger Aufbau zugrunde, beide haben 15 Szenen. Hier wie da bedienen sich die Komponisten etlicher Zitate und Allusionen aus anderen Epochen, die sie bedeutungsvoll verarbeiten, im Fall der »Soldaten« etwa Gregorianik, Romantik, Jazz, Elektronik oder einen verfremdeten Bach-Choral in den Posaunen.

Die Szenen sind meist in überlieferten musikalischen Formen geschrieben, etwa als Chaconne, Ricercar, Capriccio, Choral oder Notturno. Wie Malte Krasting im Programmheft schreibt: »Der stilistische Pluralismus ist eng verbunden mit der Zeitphilosophie Zimmermanns: Das Gestern und das Morgen untrennbar verbunden im Heute.« Doch man tut Zimmermann nicht unrecht, wenn man die extrem sorgsam durchdachte, komplizierte Struktur dieser Komposition so relativiert, wie das Alban Berg in Bezug auf seinen »Wozzeck« getan hat, indem er sinngemäß sagte, das Publikum solle von den schwierigen konzeptionellen Hintergründen der Komposition nicht unbedingt etwas bemerken – das Werk muss auch »funktionieren«, ohne dass die Zuhörer*innen mit der Nase auf alle kompositorischen Einfälle gestoßen werden.

Und genau so ist es ja, wie die sensationelle Hamburger Aufführung eindrucksvoll beweist: Eine Musik, die bewegt und berührt; oft aggressiv, mitunter aber auch ungeheuer einfühlsam und sensibel, etwa in den vielen Kammermusik-artigen Abschnitten, die mit den monumentalen Orchesterpassagen kontrastieren. Eine Handlung, die verstört: der unaufhaltsame Abstieg der vom »Edelmann« und Offizier Despartes verführten, dann fallen gelassenen und von Offizier zu Offizier »weitergereichten« Bürgertochter Marie in den Abgrund, wo sie nicht einmal mehr von ihrem Vater wiedererkannt wird. Vor allem aber und im Zentrum: Eine widerliche Bagage von Soldaten, die ihre Mitmenschen demütigen und terrorisieren und auch vor Vergewaltigungen nicht zurückschrecken – im Vierten Akt in der Kaffeehaus-Szene, die in ihrer Brutalität nur schwer zu ertragen ist. »Götter wir sind«, so stilisiert sich das Militär.

Und dabei, auch hier eine Parallele zu Büchner/Bergs »Wozzeck«, ein reichlich durchgeknallter Hauptmann namens Pirzel, der immer wieder in Plattitüden zu philosophieren sucht (»Woher kommt’s, Herr Pfarrer? dass die Leute nicht denken«) und von niemandem so recht ernst genommen wird. Und Hauptmänner wie einer namens Rammler (sic!) und ein Haudy, der im zweiten Akt sprechsingen darf: »Da haben wir’s. Mit euch verfluchten Arschgesichtern!« (falls sich mal jemand fragt, woher diese schöne Beleidigung rührt – der Lenz hats geschrieben…).

Für Zimmermann war »der Umstand, wie alle Personen der ›Soldaten‹ unentrinnbar in eine Zwangssituation geraten, unschuldig mehr als schuldig, die (…) letzten Endes in die Vernichtung des Bestehenden führt«, der zentrale Aspekt seines Werks. Eine schicksalhafte Verstrickung wie in ein er griechischen Tragödie oder in einem Shakespeare-Drama also. Doch auch wenn er selbst das »Klassendrama« nicht in den Vordergrund rückt, so ist die Klassenfrage doch sowohl bei Lenz als auch bei Zimmermann virulent. Marie ist die Tochter eines »Galanteriehändlers« und mit dem Tuchhändler Stolzius verlobt. Dass mit Desportes ein »Edelmann« sich um Marie bemüht, birgt eine gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeit, was nicht zuletzt ihrem Vater durchaus nicht unrecht ist. Er plädiert dafür, diese »Chance« offen zu halten: »Kannst noch einmal gnädige Frau werden. Man kann nicht wissen, was einem manchmal für ein Glück aufgehoben ist.« Marie jedoch fühlt ein Gewitter aufziehen; sie liebt Stolzius noch immer, »aber wenn ich nun mein Glück besser machen kann« und sogar ihr Vater dafür plädiert – »trifft mich’s, so trifft mich’s, ich sterb nicht anders als gerne«, ist ihr fatalistisches Fazit.

Doch es gibt eben kein »Glück« des Klassenaufstiegs, sondern Marie und auch ihr Vater sind letztlich nur kleine Schachfiguren, die auf dem Spielbrett der »Edelleute« und der Soldaten zu deren Vergnügen nach Belieben hin und her geschoben werden, und das grundsätzlich zum Vorteil der oberen Schichten.

Neben der totalen Düsternis weiter Teile dieser Oper gibt es auch andere Töne: Etwa die mitleidenden Streicherklänge, die fast einen Schimmer Hoffnung für Marie erkennen lassen, und in der nächsten Szene dann eher komplettes Leiden darstellen, weil es keine Hoffnung mehr gibt. François-Xavier Roth bringt das hervorragend aufspielende Gürzenich-Orchester Köln an solchen eher intimen Stellen immer wieder zum Leuchten, während er das Riesenensemble (rund hundert Musiker:innen!) samt drei im Rang verteilten Schlagzeuggruppen in den katastrophischen Teilen mit sprühender Intensität explodieren lässt – ein herausragendes Dirigat.

Dem steht das 24-köpfige Sänger:innen-Ensemble kaum nach. Zimmermann verlangt für die Partie der Marie einen »hochdramatischen Koloratursporan«, ein Widerspruch in sich, ein hochdramatischer Sopran ist ja das Gegenteil eines Koloratursoprans. Kaum eine Opernrolle dürfte schwieriger zu singen sein als diese: Eine immense Zahl von Spitzentönen, permanent extrem herausfordernde Intervallsprünge und Koloraturen. Emily Hindrichs bewältigt diese Rolle glänzend. Das gilt auch für die männlichen Partien, die sämtlich eine Terz oder eine Quart zu hoch für normale Stimmen notiert sind. Dadurch kommt es zu einer Riesenspannung, alle Sänger:innen bewegen sich permanent in stimmlichen und körperlichen Grenzgebieten, sie überstrapazieren ihre eigenen Kräfte. Dies ist natürlich ein gewollter Bestandteil der Komposition, ähnlich wie zum Beispiel Beethoven in seiner »Missa Solemnis« seine Sänger*innen überfordert – man soll dem Gesang eben just diese Überforderung anmerken, hören, dass sie sich am Rande ihrer Möglichkeiten bewegen: Das klingt dann nicht selten eher wie Geschrei denn Gesang, was dem Soldaten-Milieu gerecht werden dürfte. »Alles geschieht mit Gewalt, ist von Gewalt diktiert.« (Krasting)

Am Ende dröhnen wieder Marschtritte unendlicher Reihen von Soldaten zu martialischer Musik durch den Zuschauerraum, die in einem apokalyptischen Mix von Zuspielungen, Geräuschen, Militärkommandos, Bombendetonationen, Orgeltönen und anderen Sounds samt eines Pater Noster, eines Gebets über den Krieg, das laut Partitur »con tutta forza« praktisch zu schreien ist, zu einem fast einminütigen universellen »Schreiklang« der Menschheit kulminiert: »sed libera nos a malo«, erlöse uns von dem Bösen!

Die »Soldaten« enden mit diesem langsam verklingenden Schrei, der den Zuhörer*innen tief ins Mark fährt. Ein Schock. Zimmermann wollte, dass »während des dim. die langsam sich herabsinkende Atomwolke« eines Atompilzes »sichtbar« wird, ein Generalangriff auf alle Sinne sozusagen. In der Elbphilharmonie war das Publikum auch ohne dieses Bild tief erschüttert von dem Jahrhundertwerk. Die Interpretation war ein spektakuläres Ereignis, das noch lange nachhallen wird.

Die Veranstalter können nicht genug dafür gepriesen werden, dass sie diese monumentale Aufführung als kostenlosen Stream in der Elbphilharmonie Mediathek verfügbar machen.

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