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Planspiele für den Angriff auf Rafah im südlichen Gazastreifen
Israelische Regierung will Menschenmassen in Zelten unterbringen
Es ist ein Erfolg, den Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsninister Joaw Galant dringend gebraucht haben: Zwei Geiseln hat eine Spezialeinheit des israelischen Militärs in der Nacht zum Montag aus einer streng bewachten Wohnung in Rafah befreit. Doch ob das reicht, die wütende Bevölkerung wieder auf die Seite der Regierung zu bringen, ist ausgesprochen fraglich.
Denn der Krieg dauert nun schon mehr als vier Monate, bindet hunderttausende Soldaten, kostet Jobs und Leben, viele davon in Gaza: Die Zahl der Todesopfer, Angehörige der Ezzedin Al-Kassam-Brigaden und anderer Milizen eingeschlossen, liegt zwischen 20 000 und 30 000 Menschen im Gazastreifen. Genaue Angaben sind unmöglich. Die vielen Opfer, das gigantische Ausmaß der Zerstörung, aber auch die immer drängender werdende Frage, ob die ursprünglichen Kriegsziele, nämlich die Zerstörung der Hamas und ihrer militärischen und zivilen Infrastruktur und die Befreiung der Geiseln jemals erreicht werden können, haben auch in der israelischen Öffentlichkeit Eindruck gemacht.
Israels Regierung plant nun den Angriff auf Rafah, jene Stadt an der Grenze zu Ägypten, wo mehr als eine Million Menschen Zuflucht gesucht hat. Und die der letzte Ort ist, an dem die Hamas noch frei schalten und walten kann. Ob sie noch die Kontrolle hat, ist derweil offen: Mehrere Quellen vor Ort berichten von Menschenmengen, die Funktionäre der Hamas angreifen. Polizisten hätten sich von der Führung abgewandt. Wie umfassend der Dissens ist, lässt sich in dieser unübersichtlichen Lage nicht sagen. Aber dass die Hamas-Führung in Gaza keinen allumfassenden Zuspruch genießt, war schon vor dem Krieg klar.
Israels Regierung versucht, die eigene Öffentlichkeit darauf einzustimmen, dass es noch einige Wochen dauern wird, bis der Krieg nach Rafah kommt, und auch, dass das so sei, weil man zivile Opfer vermeiden will. Am Dienstag wurde der Plan öffentlich, 15 Zeltstädte für jeweils 25 000 Menschen im Südwesten des Landstrichs zu errichten, mit Hilfe aus Ägypten, wo man allerdings, wie ein Sprecher des dortigen Außenministeriums sagt, überrascht gewesen sei: Man will nicht in einer Rolle gesehen werden, die als indirekte Beteiligung an der Rafah-Offensive gedeutet werden könnte. Denn die der Hamas nahestehende Muslimbruderschaft ist in Ägypten sehr stark; man befürchtet ein Wiederaufflammen jener Konflikte, die 2013 nach der Absetzung von Präsident Mohammad Mursi zu Massenprotesten geführt hatten.
Die internationale Kritik an den Plänen ist nahezu allumfassend: In Europa fordern Politiker einen Stopp von Waffenlieferungen nach Israel. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte bei einem Treffen mit dem palästinensischen Außenminister Riad Al-Maliki, Israel habe ein Recht darauf, sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen, und die Pflicht, das Völkerrecht einzuhalten. Mehr als eine Million Menschen können sich nicht in Luft auflösen. Al-Maliki forderte Israel zum Verzicht auf die Offensive auf, wandte sich aber nicht kategorisch dagegen: Falls Israel darauf bestehe, sei es wichtig, Schutzkorridore zu schaffen, damit die Menschen an ihre Herkunftsorte zurückkehren können.
CDU-Chef Friedrich Merz, der sich bis Dienstag in Israel aufhält, kritisierte Baerbock für ihre deutlichen Worte. Doch das Treffen fügt sich nahtlos in die Strategie westlicher Staaten ein, die palästinensische Autonomieregierung zu stärken. Denn sie soll künftig wieder Gaza regieren. Und Al-Maliki gilt als möglicher Nachfolger für den mittlerweile 88-jährigen Präsidenten Mahmud Abbas.
Gleichzeitig wird die Hamas auch von der palästinensischen Autonomieregierung als Gegner gesehen: Seit der letzten Parlamentswahl 2006 scheiterten insgesamt 103 Versuche, gemeinsam mit der Hamas eine Regierung zu bilden und alle palästinensischen Gebiete gemeinsam zu regieren.
Schuld am Scheitern war allerdings mal die eine, mal die andere Seite: Die Hamas forderte eine Regierung unter ihrer Führung und berief sich darauf, dass sie bei der Wahl 2006 die absolute Mehrheit errungen hatte. Abbas und seine Fatah-Fraktion hingegen wollten die Hamas zwar einbinden, aber trotzdem die Kontrolle behalten. Seit dem 15. Juni 2007 regieren alle palästinensischen Regierungen auf beiden Seiten ohne verfassungsgemäßes Mandat.
In Kairo gehen derweil die Bemühungen für eine weitere Waffenruhe weiter. Israels Verteidigungsminister Joaw Galant ist der Ansicht, dass sich die Verhandlungsposition mit der Geiselbefreiung nun verbessert habe. Im Hintergrund bemühen sich zudem mehrere Regierungen um eine dauerhafte Lösung, also um eine Reform von Autonomiebehörde und -regierung sowie um Schritte hin zu einem Staat Palästina.
Sicher ist schon jetzt: Netanjahu und seiner Regierung wird nach dem Krieg ein sehr viel rauerer Wind entgegenwehen. Auch in den USA hat die große Unterstützung in beiden politischen Lagern stark abgenommen. Und nun sickerte aus dem Weißen Haus auch noch durch, Präsident Joe Biden habe Netanjahu privat als »Arschloch« bezeichnet.
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