Berlinale: Die, die sich nicht ergeben

Fantasie und Liebe zweier Jugendlicher in einer Gesellschaft der Krisen und Ängste: »Langue Étrangère« im Wettbewerb

Die großen Themen werden zu lebendigem Kino – im deutsch-französischem Schüleraustausch.
Die großen Themen werden zu lebendigem Kino – im deutsch-französischem Schüleraustausch.

Der sogenannten Generation Z, also den Menschen um die 20, wird ja von den älteren, revolutionserfahrenen Zeitgenossen gerne vorgeworfen, zu unpolitisch zu sein, nichts auf die Reihe zu kriegen und sich dem neoliberalen Zeitgeist ergeben zu haben. Nichts könnte falscher sein, wie die französische Regisseurin Claire Burger in ihrem Wettbewerbsbeitrag »Langue Étrangère« konstatiert.

In ihrem Film über zwei Jugendliche, die im Rahmen eines deutsch-französischen Schüleraustausches aufeinandertreffen, entwirft sie vielmehr das Bild einer Jugend, die angesichts eines immensen Drucks von allen Seiten vor allem ratlos ist. Nun sind die Nöte von Heranwachsenden ein uralter Topos in der Kunst, nur macht sich im Unterschied zu früher heute eben eine Ahnung breit, dass die Gesellschaft als Ganzes vor einer Zeitenwende steht, die mit der am Horizont dräuenden Selbstauslöschung der Menschheit – ja, das Pathos ist berechtigt – existenzielle Dimensionen angenommen hat. Wo soll man angesichts der Größe der Aufgabe anfangen, und wie soll jemand, der sein Leben noch vor sich hat, damit umgehen?

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Die 17-jährige Fanny (Lilith Grasmug) aus Strasbourg im Elsass trifft in Leipzig auf ihre gleichaltrige Brieffreundin Lena (Josefa Heinsius), um dort einen Austauschmonat zu verbringen. Letztere ist entgegen obiger Diagnose durchaus politisch engagiert und träumt davon, als Aktivistin tätig zu werden. Fanny hingegen hat ganz andere Sorgen, ist schüchtern, einsam und wird in der heimischen Schule gemobbt. Entgegen ihrer Erwartung werden sie enge Freundinnen und geben sich gegenseitig Halt, denn in beider Familien knirscht es gewaltig. Lenas Mutter (Nina Hoss) ist viel mehr als ihre Tochter diejenige, die nichts auf die Reihe kriegt, sie neigt dem Alkohol zu und ist als Stütze oder gar Vorbild ein Totalausfall.

Präzise seziert Burger Lenas dysfunktionale Familie, unter deren Oberfläche es brodelt. Die bald erwachsenen Kinder leben längst in ihrer eigenen Welt, die mit jener der Eltern nur noch wenige Berührungspunkte hat. Sensibel, mit viel Gespür für die Tonlage und erzählerisch ausgereift schafft Claire Burger ein Generationenporträt und beschreibt, wie die vermeintliche Passivität von heutigen Jugendlichen eher das Ergebnis von Überforderung und Angst ist. Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Klimawandel, dem Rechtsruck in der Gesellschaft, den gegenwärtigen und kommenden Kriegen, Abstiegsangst – diese multiplen Krisen münden in ein Gefühl der Fragilität und Unsicherheit, dem die einen mit emsigem Aktivismus, die anderen eben mit Passivität begegnen.

Die Eltern sind erkennbar keine Hilfe mehr, im Gegenteil sind sie eher Teil des Problems. Wie soll die nachwachsende Generation damit umgehen, dass die Erwachsenen sich schlicht weigern, die Realität der Kipppunkte anzuerkennen, und einfach weitermachen wie bisher? Dass dieses Ohnmachtsgefühl nur im Verborgenen brodelt und sich höchstens in müdem Aktivismus von Kleingruppen wie der Letzten Generation entlädt, ist das eigentlich Erstaunliche.

Burger bringt das Kunststück fertig, all diese Themen und die große Politik dahinter sinnlich erfahrbar werden zu lassen, ohne einen politischen Film daraus zu machen. »Langue Étrangère« ist mitnichten ein trockenes Lehrstück, sondern lebendiges Kino. Nichtsdestotrotz hat er viel mit der Gegenwart zu tun, deren große Themen den Subtext bilden, der sich durch die Handlung zieht. In erster Linie ist »Langue Étrangère« jedoch ein Liebesfilm, denn Fanny und Lena fühlen sich mehr und mehr voneinander angezogen. Um die überlegen wirkende Lena zu beeindrucken, erfindet die eher in sich gekehrte Fanny ihre Biografie in Teilen neu, beginnt jedoch immer mehr, sich in ihren Lügen zu verstricken.

Am Ende von Lenas Gegenbesuch in Strasbourg werden beide sehr viel über sich selbst erfahren und an Reife gewonnen haben, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

An dieser Stelle muss unbedingt die Leistung der beiden Hauptdarstellerinnen hervorgehoben werden, die im Spiel eine Chemie entwickeln, die das Prickeln zwischen beiden direkt auf die Leinwand überträgt. Kaum zu glauben, dass die Rolle der Lena tatsächlich Josefa Heinsius’ erste Filmerfahrung gewesen sein soll, so klug und ausgereift spielt sie das Mädchen zwischen jugendlichem Begehren und Zukunftsangst.

Burgers feinfühlige Regie und der kluge Erzählrhythmus machen aus »Langue Étrangère« mehr als einen herkömmlichen Coming-of-Age-Film; kein Wunder, dass die Festivalleitung ihn in den Wettbewerb eingeladen hat, statt ihn in der Sektion Generation zu präsentieren. Dennoch ist zu hoffen, dass der Film auch von vielen Jugendlichen gesehen wird.

»Langue Étrangère«, Frankreich/Deutschland/Belgien 2024. Regie: Claire Burger. Mit Lilith Grasmug, Josefa Heinsius, Nina Hoss, Chiara Mastroianni. 105 Min. Termine: 23.2., 21.30 Uhr, Cineplex Titania; 25.2., 9.45 Uhr, Verti Music Hall.

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