Achselhaare auf Rapunzellänge: »Teaches of Peaches«

Berlinale Panorama: Der Dokumentarfilm »Teaches of Peaches« zeigt den Aufstieg einer Avantgarde-Künstlerin zur feministischen Ikone

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Interviews aus der Badewanne? Für Peaches kein Problem.
Interviews aus der Badewanne? Für Peaches kein Problem.

Ist das Musik? Performancekunst? Und was sind das überhaupt für Texte? Als Peaches, mit bürgerlichem Namen Merrill Beth Nisker, vor über 20 Jahren über sexuelles Begehren, Verhütungsmittel und ihre BH-Größe sang, entlarvte sie so einige ungeschriebene Gesetze des cis- und männerdominierten Pop-Mainstreams. Der Dokumentarfilm »Teaches of Peaches«, benannt nach dem zweiten Studioalbum der kanadischen Electroclash-Musikerin, rekonstruiert ihre Karriere und begleitet die Vorbereitungen zu ihrer »The Teaches of Peaches Anniversary Tour« 2022.

Über 8000 Stunden Videomaterial aus Peaches’ Privatarchiv standen Judy Landkammer, die mit Philipp Fussenegger Regie führte, dafür zur Verfügung. Etwa von einem Auftritt Niskers Mitte der 90er Jahre in einer Kinderbetreuungsstätte oder ihren ersten Gigs als Folkmusikerin. Als Nisker sich im Jahr 2000 von einer Krebserkrankung erholt hatte, entschied sie sich ganz für die Musik. Die Musikerin Leslie Feist erinnert sich im Film an ihre gemeinsamen Auftritte, ihr WG-Leben zwischen Kakerlaken und an performative Videoprojekte. Der Musiker Chilly Gonzales denkt zurück an ihre gemeinsame Künstlerblase während der Zeit ihrer Band »The Shit«.

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Kunstvoll verwebt Landkammer das Gestern mit dem Heute, die Archivaufnahmen mit den Vorbereitungen auf die Jubiläumstour. Bei letzteren immer mit dabei: Peaches’ unterstützender Partner, technischer Leiter und kreativer Berater Ellison Glenn alias Black Cracker. Er ist selbst MC und Songwriter. Manchmal holt Peaches ihren Lebensgefährten auf die Bühne, um mit ihm rumzuknutschen. Cracker ist weder ein Fanboy noch eine Rampensau, er hätte Peaches lieber im Stillen für sich allein. Bei einem Interview zu Hause mit Katzen im Hintergrund gesteht er, wie auch er sich von ihrem Image und Songs wie »Fuck the Pain Away« trügen ließ: »Ich dachte, wir würden die ganze Zeit Sex haben.« Dabei sieht er aus wie ein schüchterner Schuljunge.

Den Über-Hit »Fuck the Pain Away« schrieb Peaches vor über 20 Jahren. In einem aktuellen Interview erklärt sie, wie er quasi von selbst entstand, als sie gerade im Flugzeug unterwegs war. Im Sommer 1999 testete sie den Song als Support-Act in Toronto. Die Tonfrau nahm alles auf und verkaufte ihr das Tape für fünf Dollar, der Song landete dann auf Peaches’ Demotape und das Berliner Independent-Label Kitty-Yo gab ihr einen Plattenvertrag.

»Teaches of Peaches« erzählt viel über das Musikbusiness. Zum Beispiel von der auch dort spürbaren Homophobie: Als Peaches wollte, dass in einem Musikvideo nicht nur Frauen, sondern auch Männer miteinander rummachen, um gegen Rap-Videos zu revoltieren, in denen sich immer nur die Frauen sexy präsentieren, verweigerten ihr die Regisseure den Wunsch. Eine Woche später erschien im Jahr 2002 Christina Aguileras Musikvideo »You are Beautiful«, in dem sich zwei Männer küssten. Chance vertan, so Niskers Kommentar.

Peaches machte weiter, steckte sich bei der legendären britischen Musikshow »Top of the Pops« das Mikro in ihre Hotpants. Das junge Publikum konnte damit damals wenig anfangen. Der Auftritt floppte. Peaches war, so »Garbage«-Frontfrau Shirley Manson, für damalige Verhältnisse »viel zu kraftvoll und viel zu sexuell«. Als Peaches im Videoclip zu »Set it Off« ihre Achselhaare auf Rapunzellänge wachsen ließ, wollte Sony das Geld für die Produktion zurück. 18 Monate lang war ihr »Teaches of Peaches«-Album durch einen Bann von Sony nicht mehr erhältlich. Die junge Musikerin machte mit »Fuck you«-Attitude weiter.

»Teaches of Peaches« macht deutlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Peaches damals um sexuelle Gleichberechtigung kämpfte. Dass sie Viva mal ein Interview von der Badewanne aus gegeben hat, kam wahrscheinlich aus einer Lust heraus. Singt Peaches »Diddle my Skittle«, dann hat sie das Bild von einer vaginaförmigen Süßigkeit im Kopf, bei ihren Konzerten trägt sie einen »Thank god for abortion«-Body. Danke Gott, dass es Abtreibung gibt! Im Film reagiert die Mittfünfzigerin verärgert auf die Frage, ob Abtreibung ein politisches oder ein persönliches Thema für sie sei. Sie verstehe die Frage nicht.

Bei Konzerten verwandelt sich Peaches innerhalb von kürzester Zeit von der Oma mit Fake-Rollator und Vagina-Hut in eine kraftstrotzende Frau, die wie auch alle anderen auf der Bühne ihren Körper und ihre Sexualität zelebriert. Ein Peaches-Konzert sei wie ein Kult, wie eine Religion, beschreibt Black Cracker die Shows. Wenn Peaches ankündige, auf den Händen ihres Publikums zu laufen, dann habe das eine gewaltige Kraft. Jesus lässt sich vom Wasser tragen – und Peaches von Menschen.

»Teaches of Peaches«: Deutschland 2024. Regie: Philipp Fussenegger und Judy Landkammer. Mit: Peaches, Black Cracker, Leslie Feist, Chilly Gonzales, Shirley Manson, Charlie Le Mindu. 102 Minuten. Nächster und letzter Termin: 23. 2., 12:15 Uhr, Verti Music Hall.

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