Linke Chöre in Berlin: Gerechtigkeit klingen lassen

Der Chor Widerklang und das Jodel-Duo Esels Alptraum beleben mit ihren Stimmen linken Widerstand auf den Straßen Berlins

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 6 Min.
Widerklang: »Wir wollen andere animieren, selber Chöre zu gründen.«
Widerklang: »Wir wollen andere animieren, selber Chöre zu gründen.«

Es ist der 19. Februar in Berlin. Die kleine Bühne bei dem Hanau-Gedenken am Oranienplatz fängt an zu wackeln. Nach und nach betreten knapp 20 Menschen eine Lkw-Pritsche, die an diesem Tag zur Bühne umfunktioniert wurde. Von links nach rechts teilen sie sich nach vier verschiedenen Stimmlagen auf: Sopran, Alt, Tenor, Bass. Etwa einen Meter unter ihnen steht eine Frau. Sie beginnt mit den Armen zu schwingen. Die Münder auf der Bühne öffnen sich, kleine Nebelschwaden steigen auf: »Uyan uyan uyan Berkin’im uyan« singt der Chor. Es ist ein Lied der türkischen Band Grup Yorum über das Schicksal von Berkin Elvan. »Wach auf, Berkin« heißt es darin. Der 15-Jährige starb 2014 nach neunmonatigem Koma in Istanbul. Er war unterwegs gewesen, um Brot zu holen, als ihn während der Gezi-Proteste eine von der Polizei abgefeuerte Tränengasgranate traf.

Der Klang der Diaspora

»Texte schreiben, Theoriebildung und Diskussionen sind für uns Linke wichtig, aber wenn es keinen Funken gibt, wenn man keine Kraft spürt, gibt es auch keine Lebendigkeit«, sagt Emilio im Gespräch mit »nd«. Emilio war 2018 einer der ersten Mitglieder des Chors Widerklang, der am Montag anlässlich des Hanau-Gedenkens auf dem Oranienplatz auftritt. Gegründet wurde der Chor von einem Genossen Emilios, welcher eine Zeit in Marseille gelebt hat. »In Frankreich gibt es gefühlt in jeder Stadt mindestens einen linken Chor«, erzählt Emilio. Die ersten Proben fanden in Berliner Wohnzimmern statt.

Wenig später trat der Widerklang-Chor zum ersten Mal öffentlich auf. »Zum Beispiel auf Solidaritätsveranstaltungen, so haben Leute uns kennengelernt und angesprochen«, erinnert sich Nancy im Gespräch mit Emilio und »nd«. Auch sie ist Teil des Chores, der für »Freiheit und Gleichheit« singt. »Revolutionär ist unser Profil, aber darin sind wir strömungsübergreifend«, ergänzt Emilio. Das sei nicht immer leicht, sondern bringe auch »Spannungsfelder« mit sich.

Offen war der Chor in den letzten Jahren für mehr als 100 Menschen in Berlin, die wenigstens an einer der wöchentlich stattfindenden Proben teilnahmen. Jede*r könne zu den Proben ein Lied mitbringen, sagt Nancy. Dieses würde dann erst mal so präsentiert, dass alle verstehen, was gesungen wird. Emilios Wunsch ist es, als internationalistischer Chor die verschiedenen »Diaspora-Communitys« zusammenzuführen. Nancy sagt: »Es geht ja auch darum, von anderen Linken zu lernen.« Schließlich brächten Menschen in der Diaspora Wissen aus anderen Kämpfen mit. Noch gelinge das nicht so ganz: »Es ist aktuell ein Thema, diverser zu werden.«

Zumindest ideologisch orientiert sich Widerklang am Prinzip Internationalismus. Das zeigt sich nicht nur in der Unterstützung von antirassistischen, polizei-kritischen oder klassenkämpferischen Veranstaltungen, sondern auch in der Musikauswahl: Von Grup Yorum über Songs aus der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung, der kurdischen Bewegung oder aus feministischen Kämpfen in Lateinamerika haben sie auch Klassiker wie »Die Arbeiter von Wien« oder »Drei rote Pfiffe« im Repertoire. Und selbstverständlich vieles aus Frankreich.

Neue deutsche Heimatlieder

»Beim Singen verbinden wir uns auf emotionaler Ebene mit dem, was in den Liedern besungen wird, und damit mit der Welt, für die wir kämpfen«, führt Emilio aus. Singen im Chor sei aus Nancys Sicht ein »Gemeinschaftsakt«, der für viele etwas Befreiendes habe. Statt nur im Kopf zu sein, werde man sich wieder seiner Körperlichkeit bewusst. Emilio spricht in dem Zusammenhang vom lateinamerikanischen Konzept der »Dekolonisierung des Körpers«. Hierzulande benötige es wohl »eine entsprechende ›Entpreußisierung‹ des Körpers.«

Allerdings – geht es nach einem linken Gesangsduo – nicht notwendigerweise, indem man historisches deutsches Liedgut ignoriert. »In unserem Namen stecken viele Dimensionen«, erzählt Elenos von Esels Alptraum im Gespräch mit »nd«. »Einmal geht es um die Ambivalenz von Heimatidyll und Nightmare, also der Alp(en)traum.« Das Duo mit dem ungewöhnlichen Namen jodelt seit neun Jahren, mal auf Demonstrationen, Kulturveranstaltungen oder mit Nachbar*innen im antifaschistischen Projekt Jogida.

»Unser Eindruck ist, dass durch den Nationalsozialismus das gemeinsame Singen verloren gegangen ist«, sagt Elenos. Zusammen mit ihrer Partnerin Gaya treten die Frauen verkleidet als »Commandantas« mit Munitionsgurt auf – mal in Trachten, mal in Uniform, aber immer mit dem Willen, »die Jodelei aus der für viele Ohren immer noch bestehenden unheilvollen Allianz mit der geistigen Verkrustung zu befreien«. Elena sagt: »Wir machen neue deutsche Heimatlieder.«

Elenos lernte das Jodeln in Berlin, wo sie auch Gaya kennenlernte, mit der sie Esels Alptraum gründete. »Jodeln ist nicht Singen, sondern eher Rufen oder Anrufen«, erklärt sie. Deshalb käme es in religiösen Kontexten oder der Tierhaltung vor und sei ein weltweites Phänomen. Und deshalb eigne es sich auch so gut für die Straße: »Es geht um Kontaktaufnahme.«

Esels Alptraum: »Wir sind die Abrissbirne der Volksmusik.«
Esels Alptraum: »Wir sind die Abrissbirne der Volksmusik.«

Elenos findet, es sei etwas Natürliches, »dass man eine Sehnsucht hat nach einem Ort, wo man sich zu Hause fühlt«. Mit dem Heimatbegriff spielen die beiden Anarchistinnen ganz bewusst. Man dürfe den reaktionären Kräften nicht das Feld überlassen. »Nicht auf der Straße, nicht in den Köpfen und nicht in der Musik!«, erklären sie auf ihrer Website.

Auch die »Europa-Hymne in Moll« ist Teil des Repertoires von Esels Alptraum. In dem Lied jodeln Elenos und Gaya gegen eine rassistische EU-Politik: »Kein Mensch ist weniger wert, weil er keinen europäischen Pass hat, und solange Frontex nicht zu einem Fähr-Unternehmen umfunktioniert wird, fordern wir alle dazu auf, die Europa-Hymne nur noch in Moll zu spielen.«

Mit dem Projekt Jogida sei laut Elenos eine bunte Mischung an Jodelbegeisterten gewachsen. »Wir geben zusammen Workshops und unterstützen politische Aktionen, zum Beispiel gegen den AfD-Parteitag«, erzählt sie. Dabei seien sowohl Kinder als auch 80-jährige Teil des Jodelns gegen rechts geworden. Manch eine*r habe sich zuvor nicht getraut, alleine auf eine Demonstration zu gehen, und jodele jetzt »Hallo Antifascisti« zur Heidi-Melodie.

Emilio macht auf einen Widerspruch aufmerksam, der sich im Choralltag auftue: »Da ist ein Clash zwischen dem, wo die deutsche Linke steht, und dem, was wir besingen.« Nancy veranschaulicht diesen Widerspruch anhand des Liedes »La Danse des Bombes«, das den Kampf um die Pariser Kommune erzählt. Auch dieses performe der Chor. »Das ist sehr weit weg von unserem Leben im Hier und Jetzt, und es fällt nicht jedem leicht, sich da hineinzuversetzen.«

Von einer linken Bewegung kann man derzeit nicht sprechen, weder hier noch jenseits der Stadtgrenze. Aber zumindest von lauten Stimmen: mal rufend, mal jodelnd, mal im Chor singend. Diese Stimmen stechen heraus, durch schillernde Kleidung, durch Töne aus den Tiefen ihrer Kehlen – und vor allem durch sehr viel Herz. »Singt mehr!«, wünscht sich Elenos von Esels Alptraum. Oder vielleicht eher jodeln. Nancy macht auf die begrenzten Kapazitäten des Widerklang-Chores aufmerksam: »Wir wollen andere animieren, selber Chöre zu gründen. Sprecht uns an, wir teilen gern unsere Erfahrungen!«

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