Demokratiebahnhof: Ankerpunkt in Anklam in Gefahr

Dem Jugend- und Kulturzentrum wurden die Räume gekündigt, wegen vermeintlicher Brandschutzmängel. Geld zur Sanierung fehlt

  • Louisa Theresa Braun, Anklam
  • Lesedauer: 10 Min.

Aus dem Demokratiebahnhof im mecklenburg-vorpommerschen Anklam schallt Technomusik bis hinaus auf den Bahnsteig. Das Jugend- und Kulturzentrum ist, wie der Name schon sagt, in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude untergebracht, also direkt am Gleis. Im Gemeinschaftsraum haben zwei Jugendliche eine riesige Soundbox auf Rädern neben dem Billardtisch aufgebaut, an dem sie sich duellieren. Einige weitere Teenager haben sich in einer Sitzecke aus Sofas und Perserteppichen niedergelassen. Die Wände sind mit »Refugees welcome«-, Demo- und Partyplakaten geschmückt. Es wirkt wie ein ganz normaler Ferientag im offenen Jugendtreff. Ist es aber nicht.

Denn dieser Tag sollte eigentlich der letzte des Demokratiebahnhofs sein. Die Eigentümerin, die Grundstücks- und Wohnungswirtschafts-GmbH Anklam (GWA), hat dem Jugendzentrum zum 15. Februar gekündigt. Der Grund: Die untere Bauaufsichtsbehörde des Landkreises Vorpommern-Greifswald habe die Nutzung ab diesem Datum untersagt, weil das alte, denkmalgeschützte Backsteingebäude in einem zu schlechten Zustand sei.

Für Tino Nicolai aus dem Vorstand des Trägervereins Demokratiebahnhof Anklam ist das unverständlich: »Es gibt ja schon einen Sanierungsplan. Wir waren eigentlich auf einem guten Weg«, sagt er und zeigt einen Flyer, in dem der Verein gemeinsam mit der GWA seine Renovierungspläne ausführt und um Fördermittel bittet. Demnach belaufen sich die Kosten auf 4,5 Millionen Euro – sowohl für das Jugendzentrum als auch für die GWA ist das viel zu viel Geld.

Mehr als 160 000 Euro, die der Verein durch Spenden und Fördergelder eingesammelt hat, wurden jedoch bereits investiert, unter anderem in Brandschutzmaßnahmen, neue Elektronik, Heizungen, Böden und Wände. Nicolai führt durch die Eingangshalle, in der eine Tischtennisplatte steht und eine Säule mit kleinen gefliesten Lokomotiven und anderen Bahnhofssymbolen geschmückt ist. Die Wände sind mit einem Lebensbaum, einer Rakete und der Aufschrift »Human Rights« versehen. Das Gebäude sei weit davon entfernt, baufällig zu sein und es gebe keinen Grund, warum es jetzt plötzlich nicht mehr nutzbar sein sollte. Im Gegenteil: »Durch Leerstand würde sich der Zustand ja eher verschlechtern«, meint Nicolai. Und das wäre ja die Folge, wenn das Jugendzentrum auszöge, aber das Geld für die Sanierung immer noch nicht da ist.

Laut Landkreis Vorpommern-Greifswald sei die Nutzung des Bahnhofsgebäudes als Jugendzentrum baurechtlich allerdings nie legitimiert gewesen. »Auf diesen Umstand hat die untere Bauaufsicht die Gebäudeeigentümerin längerfristig und bereits im Verlauf letzten Jahres hingewiesen«, teilt Landkreis-Sprecher Florian Stahlkopf auf nd-Anfrage mit. Als Frist zum Verlassen des Gebäudes seien erst das Jahresende 2023, dann »als nochmaliges Entgegenkommen« Ende Januar und schließlich der 15. Februar festgelegt worden. Problem: Das Bauamt hatte offenbar immer nur mit der GWA Kontakt, die diese Info nicht direkt an ihren Mieter weitergegeben habe, so Nicolai.

Hinzu kommt, dass der Verein Demokratiebahnhof Anklam – obwohl er seit 2018 besteht und das bis dahin leerstehende Bahnhofsgebäude bereits seit 2014 als Jugendzentrum genutzt wird – erst seit vergangenem Jahr offizieller Mieter ist. Vorher war der Pfadfinderbund der Trägerverein. Das habe schon für allerlei Verwirrung gesorgt, da das Bauamt wohl lange davon ausging, das Gebäude werde nach wie vor von den Pfadfindern gemietet und laut Nicolai nie mit dem Demokratiebahnhof Kontakt aufgenommen habe.

Wie lange kann hier noch gekickert werden? Elisabeth Schmidt vom Jugendparlament Anklam und Sozialarbeiter Rico Vtelensky im Gemeinschaftsraum des Demokratiebahnhofs.
Wie lange kann hier noch gekickert werden? Elisabeth Schmidt vom Jugendparlament Anklam und Sozialarbeiter Rico Vtelensky im Gemeinschaftsraum des Demokratiebahnhofs.

Es sei auch nie jemand vor Ort gewesen, um zu begutachten, dass, wie Stahlkopf erkärt, der Brandschutz nicht mehr gewährleistet und damit »Leib und Leben von Kindern in Gefahr sind«. Feuerlöscher seien jedoch vorhanden, die Brandmelder gewartet, die Notausgänge beleuchtet. Außerdem merkwürdig: Der Fahrkartenverkauf im selben Gebäude, für den dieselben Brandschutzbedingungen gelten, darf bleiben.

Während die Jugendlichen immer noch unbekümmert Billard spielen oder sich unterhalten, wirkt die Stimmung bei den ehrenamtlichen und festangestellten Beschäftigten im vorderen Teil des Gemeinschaftsraums angespannt. In den nächsten Minuten will die GWA vorbeikommen, um die Schlüssel abzuholen. »Das behindert meine Arbeit. Ich weiß gar nicht, wie ich hier weitermachen kann«, sagt Jugendsozialarbeiter Rico Vtelensky. Eigentlich würde er gerne ein Frühlingsfest planen - aber wird es überhaupt noch eines geben, wenn es womöglich bald keinen Ort mehr dafür gibt?

Alternative Räume gibt es keine. Die GWA hat dem Verein zwar eine Wohnung in einem anderen Teil der Stadt angeboten, aber das kommt für den Demokratiebahnhof nicht infrage – nicht nur wegen des Namens. Die Nähe zum Bahnhof sei wegen der Erreichbarkeit wichtig, da einige Jugendliche auch aus Nachbarorten kämen. Im Schnitt seien es täglich 10 bis 15 junge Menschen im Alter von 14 bis 21 Jahren. Wenn man sie wirklich rauswerfen sollte, »dann stelle ich mich künftig vor den Bahnhof«, erklärt Vtelensky scherzhaft. Jasper Schulz findet die Aussicht »nicht so cool. Ich würde mein Bufti schon gerne weitermachen.« Erst im September hat er einen Bundesfreiwilligendienst beim Demokratiebahnhof begonnen.

»Wir sind auch nach wie von dem Konzept überzeugt«, betont Nicolai. Der Demokratiebahnhof sei einer von wenigen Orten in der Gegend, die außerhalb von Schule für Jugendliche offen seien. Solche Orte seien aber wichtig, um Selbstwirksamkeit, ehrenamtliches Engagement und damit auch die Bindung an die Region zu stärken. Wenn es keine Orte für sie gibt, gäbe man jungen Menschen auch nicht das Gefühl, willkommen zu sein. Bevor der Demokratiebahnhof gegründet wurde, hätten viele von ihnen »ihre Freizeit am Gleis verbracht«, sagt Nicolai. Andere würden gleich nach der Schule woanders hinziehen. Für ihn selbst sei sein Ehrenamt ausschlaggebend gewesen, um hier zu bleiben.

Nun biete man ihnen hier neben dem offenen Jugendtreff unter anderem einen Bandprobenraum, eine Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt, einen Gemeinschaftsgarten, ein Jugendparlament sowie Workshops, Vorträge und Lesungen zu verschiedenen Themen, unter anderem zum Klima. Vtelensky berät und unterstützt die Jugendlichen auch bei verschiedenen Problemen. Gerade habe er zum Beispiel erfahren, dass eine Person ihren Ausbildungsplatz verloren habe und versuche zu helfen.

Auch Elisabeth Schmidt, die mit Vtelensky und Schulz am Tisch sitzt, ist unglücklich über die Situation. Die 15-Jährige ist Vorsitzende des Jugendparlaments. Das Gebäude sei für sie und andere Jugendliche ein wichtiger Ort. »Hier kann man zusammenkommen und sein, wie man will«, sagt sie. Als Schlagzeugerin nutzt sie unter anderem auch den Bandprobenraum regelmäßig und kürzlich habe sie einen Schweiß-Workshop besucht. »Ich hoffe einfach, dass wir bleiben können«, sagt sie.

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Auch aus politischen Gründen spielt der Demokratiebahnhof eine wichtige Rolle. Die »Demokratie« wurde dem »Bahnhof« nicht ohne Grund vorangestellt: Anklam hat eine starke rechte Szene, und bei den letzten Bundestagswahlen gewann die AfD im umliegenden Wahlkreis 23 Prozent der Stimmen. Viele Jugendliche kämen zu Hause mit rechtem Gedankengut in Berührung. »Hier werden Alternativen aufgezeigt. Wir vermitteln Werte, sind ganz klar gegen Diskriminierung«, erklärt Nicolai. Auch für manche Geflüchtete sei das Jugendzentrum ein Anlaufpunkt.

Damit macht sich der Demokratiebahnhof in der Umgebung auch Feinde: Vor einigen Jahren griffen Rechtsextreme das Gebäude mit einem Molotowcocktail an, immer wieder würden Farbbeutel geworfen oder rechte Sticker verklebt. Eine Strategie der AfD sei es, die Jugendarbeit insgesamt infrage zu stellen, weil sie zu links sei, oder den Jugendlichen Vandalismus vorzuwerfen, wenn mal irgendwo Müll herumliege. Gerade deswegen sei es »ein fatales Zeichen, wenn Jugendarbeit verschwindet«, findet Nicolai.

So sieht das auch Johannes Hecht aus dem nahe gelegenen Ort Daberkow, der bei der zeitgleich zur EU-Wahl anstehenden Kreistagswahl im Sommer für Die Linke kandidiert. Der Demokratiebahnhof sei »eine wichtige Institution in Vorpommern, die für Weltoffenheit stehe«, sagt er. Sollte er ausziehen müssen und die AfD die Wahlen gewinnen, sieht er kaum Chancen für eine Rückkehr des Jugendzentrums. Deshalb hat Hecht bereits eine Demonstration in Anklam und eine Petition zum Erhalt des Demokratiebahnhofs organisiert. Bislang haben knapp 1200 Personen unterzeichnet.

Doch der Demokratiebahnhof hat nicht vor auszuziehen. »Wir halten die Kündigung für rechtswidrig«, erklärt Nicolai. Denn eigentlich liege die Kündigungsfrist im September 2025 und die GWA habe keinen Grund für eine außerordentliche Kündigung vorgelegt. Der Landkreis hat bislang allerdings auch noch keine Nutzungsuntersagung ausgesprochen, »in der Hoffnung, dass Vermieter und Nutzer vor dem Hintergrund des erheblichen Risikos eine rechtskonforme und sichere Lösung zum Fortbestand des Demokratiebahnhofes finden«, wie Landkreis-Sprecher Stahlkopf erklärt.

Da diese Lösung bis heute nicht gefunden wurde, hat der Demokratiebahnhof die Räumungsaufforderung der GWA per Anwalt zurückgewiesen. Dennoch: Zum angekündigen Termin stehen die GWA-Geschäftsführer*innen Jens Kiel und Beatrix Wittmann-Stifft vor der Tür, letztere ist gleichzeitig stellvertretende Bürgermeisterin von Anklam. Auch die Presse hat sich versammelt. »Ich glaube, wir ziehen an einem Strang, wenn es darum geht, das Projekt zu erhalten«, sagt Wittmann-Stifft zu Tino Nicolai und den auf sie gerichteten Kameras.

Die Kündigung richte sich in keinster Weise gegen den Verein, sondern diene der Vorsorge, »aber wir zwingen Sie nicht auszuziehen«, erklärt sie. Die Schlüsselübergabe ist also abgesagt. Nicolai bleibt dennnoch skeptisch. Warum die GWA denn gleich gekündigt und nicht über eine Pausierung des Mietvertrags oder eine Teilnutzung bei gleichzeitiger Sanierung nachgedacht habe? Beides sei schwierig, sagt Kiel - außerdem fehlten zur Sanierung ja immer noch 4,5 Millionen Euro. »Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, das ist nicht so einfach«, erklärt er.

Aber man könne ja eine Absichtserklärung machen, dass der Verein nach einer Renovierung wieder zurückkommen dürfe, schlägt Wittmann-Stifft vor. Die Verantwortung für die Kosten delegiert sie auf höhere Ebene. »Wir brauchen Unterstützung. Das kann nicht Aufgabe des Vereins oder des Vermieters sein«, meint sie. Landes- oder Bundesregierung sollten einspringen.

Erst am Vortag hatte Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Stefanie Drese (SPD) versichert, die Landesregierung unterstütze die Anstrengungen, dieses »sehr wichtige Projekt in der Region« fortzuführen – gleichzeitig aber auf die Zuständigkeit von Stadt und Kreis verwiesen. Staatssekretär Heiko Miraß (SPD) hatte gegenüber dem NDR erklärt, eine Unterstützung aus dem Fonds für Vorpommern und das östliche Mecklenburg werde »geprüft«.

Zum Demokratiebahnhof kommt nun auch Anklams Bürgermeister Michael Galander (Initiative für Anklam), erklärt sich ebenfalls solidarisch und verweist verärgert darauf, dass sämtliche Unterstützungangebote anderer Politiker*innen bislang »Lippenbekenntnisse geblieben« seien. Zwar habe das Jugendzentrum in den vergangenen Jahren immer mal wieder Geld aus verschiedenen Töpfen bekommen, aber das sei eher »Symbolpolitik« gewesen. Das meiste für den Demokratiebahnhof geleistet hätten die GWA und die Stadt, betont er und kündigt an: »Jetzt wird hier halt illegal weitergemacht.«

Eine Lösung ist das natürlich nicht. »Demokratie ist nur so viel wert, wie man Geld hat«, sagt Dirk Stallbohm frustriert, als sich Bürgermeister und GWA-Geschäftsführung wieder verabschiedet haben. »Das ist peinlich, gerade bei der Nazi-Geschichte dieser Stadt«, findet der Sozialarbeiter des Demokratiebahnhofs.

Florian Stahlkopf betont, dass die sozialpädagogische Arbeit natürlich auch dem Landkreis wichtig sei, der der Einrichtung im vergangenen Jahr zwei Stellen finanziert habe. »Dies kann und darf jedoch nur im Rahmen der geltenden gesetzlichen Regelungen geschehen.« Daher werde nun über die offizielle Nutzungsuntersagung entschieden. Tino Nicolai wertet es zumindest als Erfolg, dass sie noch nicht rausgeworfen wurden und dass man im Gespräch bleibe.

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