Blütenstaub im Anflug

Folgen des Klimawandels belasten Allergiker immer mehr Monate im Jahr

Sie sind schon wieder unterwegs: Ein milder Februar sorgte dafür, dass Hasel und Erle bereits in der Hauptblüte stehen, in der Luft sind auch schon Eibe, Pappel und Ulme. Gemeint sind deren Pollen, die für mehr als die Hälfte der Pflanzen zur Bestäubung und damit zur Fortpflanzung unerlässlich sind. Übertragen werden kann der Blütenstaub nicht nur über die Luft, sondern auch durch Wasser oder von Tieren, darunter von Insekten. Das Phänomen existiert schon etwa 300 Millionen Jahre. Im Vergleich dazu ist das Problem, das manche Menschen mit Pollen haben können, sehr jung. Wissenschaftlich wahrgenommen wurde es zuerst im 19. Jahrhundert.

Der Londoner Arzt John Elliotson vermutete erstmals 1833, dass Gräserpollen Krankheitsauslöser sein könnten. Dass es hier ein gesundheitliches Problem gibt, hatte schon 1819 sein Kollege John Bostock erfasst, der selbst schwer an einem Sommerkatarrh erkrankt war. Bereits 1565 beschrieb Leonardo Botallo eine Rosenerkältung. Die englischen Ärzte vermuteten teils eine Krankheit höherer Klassen, deutsche Mediziner ordneten sie speziell den Engländern zu. Auf jeden Fall wurde bald festgestellt, dass Aufenthalte in den Bergen oder an der See die Symptome linderten. US-Amerikaner wiederum förderten zu Ende des 19. Jahrhunderts über spezielle Verbände als Erste entsprechende Kurorte für Allergiker, wobei der Begriff erst 1906 eingeführt wurde.

Die winzigen Pollenkörner – in der Mehrzahl sind sie 20 bis 50 Mikrometer groß – setzen in Kontakt mit Feuchtigkeit etliche ihrer Bestandteile frei: Proteine, Lipide und Zucker. Auf einige davon reagiert das menschliche Immunsystem, und zwar jeweils spezifisch: Nach dem Erstkontakt mit genau einem Pollenbestandteil einer Pflanzenart wird bei jedem zweiten und weiteren Kontakt eine allergische Reaktion ausgelöst. Zwischen dem ersten Schritt und dem folgenden können durchaus Jahre liegen. Das Resultat dürften viele Menschen erlebt oder beobachtet haben: gerötete und tränende Augen, Niesen und Schnupfen, kratzender Hals. Asthma kann eine Folgeerkrankung sein. Der Heuschnupfen ist eine typische Sofortallergie: Der Körper reagiert teils sekundenschnell, etwa mit einem kräftigen Niesen, hier spezifisch auf die Pollen von Gräsern, mit denen aber erst ab April zu rechnen ist.

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Inzwischen wurden jede Menge Hilfsmittel entwickelt, um den Allergikern über die kritischen Monate zu helfen. Akute Beschwerden lassen sich durch Kortison oder Antihistaminika lindern. Letztere schwächen die Wirkung des körpereigenen Botenstoffs Histamin ab. Histamin wirkt unter anderem als Neurotransmitter und ist auch in Pflanzen und Bakterien vorhanden. Im menschlichen Immunsystem ist es einer der Botenstoffe bei Entzündungen und wirkt auf ein Anschwellen von Gewebe hin. Neben den Akutmitteln gilt der Weg einer Hyposensibilisierung als eleganter. Dabei werden über drei Jahre hinweg geringe Dosen des jeweiligen Allergens verabreicht, um einen Gewöhnungseffekt zu erreichen.

Wichtig ist zudem das Wissen darüber, wann bestimmte Pollen unterwegs sind. Dafür gibt es bestimmte Apps, darunter eine kostenlose namens »Pollen+« von der Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst. Diese zeigt, nach Postleitzahlengebieten genau, wann welche Pollen fliegen, und ermöglicht eine dreitägige Vorhersage. In der Hochsaison sollten Betroffene möglichst in Innenräumen bleiben, was für viele aber kaum zu organisieren ist. Auch eine FFP2-Maske im Freien soll helfen.

Für die Pollenallergiker ist auf jeden Fall Regen von Vorteil, wie der letzte Dezember zeigte: Zwar waren in einigen Teilen Deutschlands schon Hasel- und Purpurerlenpollen in der Luft. Starke Niederschläge und ein Wintereinbruch verhinderten aber stärkeren Pollenflug bis Anfang Februar. Das sind jedoch nur grobe Ansagen, ähnlich der, dass die Konzentrationen des Blütenstaubs auf dem Land morgens am höchsten sind, in der Stadt hingegen abends.

Laut Robert-Koch-Institut litten 2019 schon 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter einer Pollenallergie. Dieser Anteil könnte zunehmen, weil sich in der Folge des Klimawandels die Pollensaison bereits ausdehnte: Nicht nur der genannte frühe Beginn deutete darauf hin. In früheren Jahren konnten Allergiker ab August wieder durchatmen. Jetzt verlängert sich die Saison auch durch eingeschleppte Arten, etwa durch die Ambrosiapflanze, auch als Traubenkraut bekannt, die länger blüht als einheimische Arten. Während nach Prognosen des Helmholtz-Zentrums München die Belastung durch Birkenpollen bei steigenden Temperaturen abnimmt, könnten sich hitzebeständige Gräser in Deutschland weiter ausbreiten.

Fachleute beobachten zudem, dass Pflanzen heute mehr Pollen als früher freisetzen und diese eine höhere allergische Wirkung haben. Dazu beitragen könnte die wachsende Konzentration von Kohlendioxid. Dieses regt Pflanzen zum Wachstum an, sie blühen auch intensiver. Lange Trockenperioden führen auch dazu, dass in den Pollen mehr Eiweiße enthalten sind – und damit wichtige Allergieauslöser. Feinstaub und andere Umweltschadstoffe können vor allem in Städten an den Pollen andocken, sie stressen auch schon die Pflanzen und ändern deren allergenes Potenzial. Das bedeutet in den Städten mehr Allergene pro Pollenkorn als auf dem Land.

All das könnte dazu beitragen, dass bis 2050 jeder zweite Mensch in Deutschland an einer Allergie leiden wird, was Wissenschaftler von der Europäischen Akademie für Allergie und Klinische Immunologie durchaus für möglich halten.

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