Strategie: Neugier

Dokfilme von Gerd Kroske in einer Berliner Werkschau

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 3 Min.
Lässt seinen Partnern und sich selbst Zeit – man kann ihnen beim Nachdenken zusehen: Gerd Kroske
Lässt seinen Partnern und sich selbst Zeit – man kann ihnen beim Nachdenken zusehen: Gerd Kroske

Diesen Samstag beginnt im Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum eine Werkschau mit den Filmen von Gerd Kroske. Es ist der erste deutsche Gesamtüberblick über sein Werk. Der Beginn seiner Karriere war atemberaubend: Der Dokumentarfilm »Leipzig im Herbst« (1989, zusammen mit Andreas Voigt) bietet ein breites Panorama der revolutionären Ereignisse in der Stadt – von den Montagsdemos über den Leipziger Ring bis zu Interviews mit Volkspolizisten, unglaublich ehrlich, schnell gedreht, rasant geschnitten. Heißer und aufregender war wohl selten ein Dokumentarfilm über jene Jahre in Deutschland, und dichter an der Zeit auch nicht.

Mit diesem Film, mit den dabei gewonnenen Erfahrungen (vor allem mit einem sozusagen plebejischen Blick) und dem Material grundierte Kroske sein künftiges Schaffen. Hier lernte er Leipziger Straßenkehrer kennen, die nächtens den Demo-Müll wegräumten. Ihnen begegnete er dann noch mehrfach über einen längeren Zeitraum als Langzeitbeobachtung (bis 2006); so entstand seine bis heute sehenswerte Leipziger »Kehraus«-Trilogie. Er verfolgte ihre individuellen Schicksale – wachsende Verarmung und Vereinzelung inmitten der Großstadt und Sich-dagegenstemmen –, »weil ich mir einen glücklichen Ausgang wünschte«, wie Kroske sagte. 1996 gründete er seine eigene Produktionsfirma Realistfilm, die fortan seine Filme produzierte.

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Mit Beginn der Nullerjahre schnürte er wieder ein geografisch und personell eng verbundenes Filmpaket: »Der Boxprinz« über den Profiboxer und Schauspieler Norbert Gruppe (2000) und »Wollis Paradies« über einen etwas anderen Zuhälter (2007). Um die Hamburger Reeperbahn herum findet er allerlei skurrile Existenzen, verschrobene, verlodderte, trotzdem liebenswert-humorvolle Kiezgrößen. Die Filme bieten eine unterhaltsame Mischung von Milieustudien und Personen-Psychogrammen. Sie zeigen Lebensbefindlichkeiten von Randexistenzen, die diese mit schrulligem Eigensinn und Sarkasmus vorleben.

In seinem Film »Woksal« (russ., Der Bahnhof, 1994) forscht er nach den Besonderheiten dieses Knotens zwischen Polen und der Sowjetunion in der Grenzstadt Brest, zeigt die dortigen Einwohner und erfasst Verbindungen zwischen Gulag, Sowjetzeit und Gegenwart. In »Schranken« (2009) analysiert er, wie NVA-Offiziere und Techniker DDR-Grenzanlagen »sicher« machen wollten.

Der Film »Striche ziehen« (2013) ist bislang sein originellster: Eine Gruppe aus der Weimarer Punkszene reist in den 80ern peu à peu nach Westberlin aus, dann malen sie bei einer Kunstaktion einen dicken weißen Strich auf die Mauer, als Zeichen des Protests; plötzlich geht eine Tür auf, und einer der Maler wird von DDR-Grenzern verhaftet und erst ein Jahr danach vom Westen freigekauft. Später stellt sich heraus, dass einer die anderen verraten hat, was auch ein familiäres Drama ist. Großen Eindruck macht, wie Kroske diese Menschen filmt: geduldig, mit Ruhe und Gerechtigkeit für jeden.

Seine Methode: Er nimmt eine aktuelle Episode, dreht mit Beteiligten als Zeitzeugen und stößt dann in historische Hintergründe vor – sehr detailgetreu, mit Respekt gegenüber den Menschen, ohne sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Er interviewt mit leiser Stimme, lässt seinen Partnern und sich selbst Zeit – man kann ihnen beim Nachdenken und Ringen um passende Antworten zusehen. Sehr einprägsam.

Ein eigenwilliger, sehr filmgemäß und offensiv arbeitender Dokumentarist mit großem Spürsinn für solche Geschichten und Protagonisten, mit denen er eine schlüssige Verknüpfung von Gegenwart und jüngster Vergangenheit anbietet, die jeden Zuschauer fasziniert. Eine bemerkenswerte Ausnahme im derzeitigen deutschen Dokumentarfilmschaffen. Seine Strategie bleibt die Neugier.

Vom 2. bis 30.3., Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum, Berlin.

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