100 Tage vor der EM: Neuendorf und Lahm als Gesundbeter

Von Vorfreude und Begeisterung ist vor der Europameisterschaft in Deutschland nichts zu spüren

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Maskottchen und alte Männer bei der Uefa: Mehr Vorfreude auf die EM 2024 ist noch nicht zu finden.
Maskottchen und alte Männer bei der Uefa: Mehr Vorfreude auf die EM 2024 ist noch nicht zu finden.

In wenigen Wochen wird die Umgebung ganz anders aussehen: bunter, farbenfroher. Wenn erst einmal der Frühling den Frankfurter Stadtwald erreicht, dann liegt die zentrale Organisationseinheit für die Fußball-EM 2024 im zweigeschossigen Anbau der früheren DFB-Zentrale in der Otto-Fleck-Schneise mitten in einer grünen Wohlfühloase. So soll es bestenfalls auch mit der von hier gesteuerten Endrunde vom 14. Juni bis 14. Juli laufen. Aber 100 Tage vor dem Startschuss will der graue Schleier einfach nicht weichen: Begeisterung und Vorfreude auf das größte Sportereignis der nächsten Jahre sind kaum zu erkennen.

Die Außensicht scheint eine andere, wie Markus Stenger, Geschäftsführer der Euro 2024 GmbH, kürzlich auf dem Sportbusinesskongress in Hamburg anmerkte: »Das Ausland hat wahnsinnig viel Lust. Da verspüren wir eine wahnsinnige Vorfreude – teilweise stärker als im Inland.« Auch seine Sorgenfalten sind ein bisschen größer geworden. Neben der Mobilität sei auch der »Blick auf die geopolitische Weltlage« herausfordernd, sagte Stenger. »Wir haben noch jede Menge zu tun. Alles steht und fällt mit der Sicherheit.«

Kritik am Glücksspiel bei der Europameisterschaft

100 Tage vor dem EM-Start müssen sich die Uefa und die Bundesregierung Kritik gefallen lassen. Das Bündnis gegen Sportwettenwerbung mit Mitgliedern wie Transparency International und der Fanorganisation »Unsere Kurve« spricht von einer »Tatenlosigkeit der Veranstalter« und der »staatlichen Stellen« beim Schutz vor »problematischem Glücksspiel«.
Das Turnier mache »durch den Sponsor Betano Sportwetten salonfähig und lässt zu, dass insbesondere die Zielgruppe junger, fußballbegeisterter Männer zum Glücksspiel gelockt wird«, sagte Sylvia Schenk von Transparency International. Kollateralschäden wie die Suchtgefahr würden ausgeblendet beziehungsweise bagatellisiert. Laut des Bündnisses besteht angesichts von »etwa 1,3 Millionen glücksspielsüchtigen Personen in Deutschland, darunter ein beträchtlicher Anteil an Sportwettern, dringender präventiver Handlungsbedarf«. SID/nd

Wie soll also das vielzitierte Sommermärchen 2.0 zustande kommen? Die erste Antwort muss lauten, dass es vor der WM 2006 kaum besser war. Die Stiftung Warentest versetzte das Land damals zu Jahresbeginn in Aufruhr, weil die von viel Steuergeld gebauten neuen Arenen angeblich »teilweise beträchtliche Sicherheitslücken« aufwiesen. Doch waren die Prüfer übers Ziel hinausgeschossen, weil sie aus zu kurzen Trittstufen »verheerende Folgen« ableiteten. Beanstandet wurden auch zu viele Karten für Vips und Sponsoren sowie angebliche Datenlecks der WM-Tickets. Dazu kam, wie auch aktuell, die sportlich verheerende Situation: Nach einem 1:4 des deutschen Nationalteams gegen Italien in Florenz forderten viele Konsequenzen. Auch die Bundesliga schien nicht mehr konkurrenzfähig.

Und doch war alles kein Thema mehr, als mit dem Eröffnungsspiel am 9. Juni 2006 in München Philipp Lahm trotz eines kaputten Arms den Ball gegen Costa Rica in den Winkel jagte. Ab diesem Tag schien in ganz Deutschland die Sonne. Und die Welt war zu Gast bei Freunden. Heute ist der WM-Kunstschütze der EM-Turnierdirektor und sagt: »Bei der Weltmeisterschaft 2006 habe ich selbst erfahren, wie sehr ein Turnier im eigenen Land die Menschen begeistern kann. Deutschland hat sich als gastfreundliches, modernes Land und guter Organisator präsentiert.« Er sei sich sicher, »dass auch die Euro 2024 ein Ereignis werden kann, das die Menschen in Deutschland und Europa begeistert und zusammenbringt«.

Wie Lahm versucht sich auch Bernd Neuendorf, Präsident vom geschundenen Deutschen Fußball-Bund, als Gesundbeter: Ihm gefalle es nicht, wenn »die Stimmung in den Keller geredet wird«. Er wehre sich zwar dagegen, dass der »Fußball als Allheilmittel« tauge, damit würde man das Event gewiss überhöhen. Aber »Abwechslung, Zuversicht, Freude und Stolz« solle das Turnier schon stiften. Es hätte nicht 150 000 Bewerbungen aus aller Welt auf die 16 000 Volunteer-Plätze gegeben, wenn »sich nicht so viele Menschen mit dem Turnier in Verbindung setzen wollen«, sagte Neuendorf. Gleichwohl merke er natürlich, wie die »multi-krisenhafte Situation auf die Stimmung drückt«. Da viele Menschen hierzulande bei wichtigen Zukunftsfragen wie Energieversorgung, Klimaschutz oder Zuwanderung einfach nicht zusammenfinden können oder wollen, kommt die gesellschaftspolitische Kontroverse noch zur angespannten Weltlage mit Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt hinzu.

Die EM-Organisatoren bedauern, dass die Bundesregierung auf der Bremse steht. »Man hätte mehr aus dem Turnier machen können«, kritisierte Stenger erneut. Die Säule Transport wackele, weil der Flugverkehr – nicht nur streikbedingt – so unzuverlässig sei wie nie zuvor. Auch die Großbaustellen auf vielen Autobahnen sind nicht rechtzeitig beseitigt, was beim Ansturm von so vielen Fans im Herzen von Europa zu Problemen führen kann. Und sportlich läuft beim DFB-Team ebenfalls wenig rund. Aber vielleicht fügt sich ja alles wieder zu einer fröhlichen Einheit.

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