Fußball in Ruanda: Die versöhnende Kraft des Spiels

Der Ruander Ladislas Nkundabanyanga versucht, mit Fußball den Hass zu überwinden

  • Tom Mustroph, Sechoir
  • Lesedauer: 8 Min.
Ladislas Nkundabanyanga holt die Kinder nach jedem Spiel zusammen und spricht mit ihnen über Themen, die weit über den Fußball hinausgehen.
Ladislas Nkundabanyanga holt die Kinder nach jedem Spiel zusammen und spricht mit ihnen über Themen, die weit über den Fußball hinausgehen.

An Hindernissen mangelt es nicht in der Gemeinde Sechoir im Nordwesten Ruandas. Ein großer Haufen abgeschnittener Bambusstäbe liegt auf einer Rasenfläche. Das ist ziemlich unpassend. Denn an diesem Samstagmorgen will auf genau dieser Wiese die Organisation Rwanda Youth Clubs for Peace ein Fußballspiel austragen, gegen eine Fußballschule aus der Nachbarschaft. Ladislas Nkundabanyanga hebt verdrossen die Arme: »Gestern war alles noch frei. Es ist der Platz, auf dem wir gewöhnlich trainieren. Und nun das.«

Doch die resignative Stimmung hält nicht lange an. Trainer, Betreuer und Kinder greifen beherzt hinein in den Haufen aus Gehölzen. »Jungs, das ist unser Aufwärmtraining, eins, zwei, eins, zwei«, gibt einer der Trainer den Rhythmus vor. Und tatsächlich ist der Berg in gut einer Viertelstunde abgetragen.

Es ist ein Triumph des Pragmatismus über unerwartete Hindernisse. Das folgende Spiel kann man ebenfalls so bewerten. Denn auch dort, wo der Rasen nicht durch Bambus bedeckt war, ist er extrem uneben. Erdklumpen, bewachsen mit Grasbüscheln, ragen aus dem Boden. Gepflegtes Passspiel ist nicht möglich. Also haben sich die Zwölf- bis 14-Jährigen, die gerade spielen, gute Techniken beim Annehmen von hohen Bällen angeeignet. Ganz selbstverständlich praktizieren sie auch Fallrückzieher, die hohe Schule der Artistik im Fußball.

Das halbe Dorf ist zum Spiel gekommen. Jugendliche kauern hinter dem Tor, feuern ihre Freunde und Geschwister an. Ein paar Halbwüchsige auf Rennrädern machen eine Pause von ihrem eigenen Trainingsprogramm und schauen gespannt auf das Treiben. Fußball ist in Sechoir Freizeitbeschäftigung. Und es ist ein gesellschaftliches Ereignis. Ladislas Nkundabanyanga, früher selbst ein Fußballer, später Lehrer für Englisch und Sport, hat das Spiel mit dem Ball in ein umfangreiches Erziehungs- und Bildungsprogramm integriert.

Vor dem Anpfiff holt er die Spieler beider Mannschaften zu sich und erklärt ihnen, dass sie über das Spiel Freunde werden mögen. »Wenn ihr euch später wieder begegnet, sei es auf der Straße, in der Schule oder im Bus, erinnert euch daran, dass ihr gemeinsam Fußball gespielt habt, dass ihr gemeinsame Erlebnisse hattet und dass ihr voreinander Respekt und Achtung haben sollt«, gibt er ihnen auf den Weg.

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Welchen Eindruck seine Worte machen, ist auf den Gesichtern der jungen Burschen nicht auszumachen. Nkundabanyanga ist aber überzeugt davon, dass sie wirken. Seit 1994 schon vertraut er der versöhnenden Kraft des Fußballs, seit dem Ende des Völkermords in Ruanda. In nur rund 100 Tagen hatten Angehörige der Hutu-Mehrheit rund drei Viertel der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit umgebracht. Die Täter kamen aus den Reihen der ruandischen Armee, der Präsidentengarde, der Gendarmerie und der Verwaltung. Auch die Milizen der Impuzamugambi und der Interahamwe spielten eine Rolle. Insgesamt starben etwa 800 000 Menschen, bis die Rebellenbewegung Ruandische Patriotische Front (RPF) der Tutsi die Oberhand gewann.

Mit seinen Eltern und Geschwistern war Nkundabanyanga seinerzeit kurz ins Nachbarland Zaire, heute die Demokratische Republik Kongo, geflohen. »Wir blieben nur eine Woche. Denn die Situation in den Lagern war schlimm. Menschen wurden getötet, viele starben auch aufgrund von Krankheiten«, erinnert er sich. Als er zurückkam, selbst noch ein Schüler, war er geschockt von den vielen Leichen auf der Straße in seinem Heimatort. Aber er hatte eine Vision. »Ich war Fußballer. Und ich habe gedacht, Fußball kann eine Brücke zwischen den Menschen bauen. Also habe ich ein erstes Match zwischen den Soldaten der RPF und Spielern aus der Zivilbevölkerung organisiert. Ich wollte ein Zeichen setzen, dass wir alle Menschen sind. Und ich wollte auch den Geflüchteten im Kongo zeigen, dass wieder Frieden herrscht und dass man zurückkommen kann ins Land.«

Zum ersten Spiel kamen nur wenige. Die Menschen hatten weiter Angst, trauten offenbar noch nicht der RPF, die selbst nicht frei von blutigen Racheaktionen war. »Zum zweiten Match trauten sich schon viel mehr Menschen. Sie sahen, dass sie nichts zu befürchten hatten. Wir machten dann immer weiter mit dem Fußball. Denn wenn du Fußball spielst oder auch wenn du nur zuguckst, dann reißt du die Arme hoch und springst auf, wenn dein Team ein Tor geschossen hat. Du jubelst und umarmst die Menschen um dich herum, und du vergisst dabei auch, was dich trennt, welche Konflikte du vielleicht hast«, erläutert er sein Credo.

Und genau deshalb betreibt Nkundabanyanga eine Fußballakademie. Er nennt sie weiterhin Rwanda Youth Clubs for Peace. Denn es ist nicht nur eine Fußballschule, sondern eine Akademie, die auf das Leben vorbereitet und die den Frieden zwischen den Menschen über alles stellt. »Als ich als Lehrer an einer Schule arbeitete – das war einige Jahre nach dem Genozid –, habe ich mich gefragt, was wir als Pädagogen auch außerhalb des Unterrichts tun könnten, um eine Erziehung zum Frieden zu befördern, um die Kinder selbst zu Akteuren des Friedens zu machen. Damals sprachen wir viel über den Genozid, über den Hass, der dazu führte. Wir besuchten gemeinsam Gedenkstätten und sprachen dann über unsere Erlebnisse. Und wir merkten, wie sehr die Kinder Fußball liebten, Jungen wie Mädchen übrigens. So entdeckten wir auch den Fußball als Mittel«, erzählt er.

Fußball ist populär im Land. In den 1930er Jahren führte der damalige König, der den Europäern gegenüber aufgeschlossen war, Fußball ein. Er hielt sogar die Häuptlinge an, eigene Mannschaften zu gründen. Das sind die Ursprünge mancher noch heute existierender Klubs.

Nach dem Genozid habe Fußball auch eine wichtige Rolle gespielt, um das Land zu vereinen, betont Nkundabanyanga. Das geschah über Freundschaftsspiele, wie er sie selbst organisiert. Schlüsselmomente waren aber auch der Jubel über die Qualifikation der ruandischen Nationalmannschaft zur Afrikameisterschaft 2004 und die Teilnahme einer ruandischen Auswahl bei der U17-Weltmeisterschaft 2011. Kinder aus Opferfamilien, Waisen des Genozids und auch Kinder von Völkermördern standen bei der U17-WM gemeinsam in einem Team.

Sogar während des Genozids konnte die Liebe zum Fußball den zerstörerischen Hass gelegentlich überwinden. Eric Murangwa, ein früherer Nationalspieler und Torhüter des Kultklubs Rayon Sports, wurde von Mitspielern versteckt, obwohl sie selbst dadurch in Gefahr gerieten, umgebracht zu werden. Sogar ein Anführer der Interahamwe-Miliz, der brutalsten Fraktion im Genozid, habe ihm geholfen, erzählte Murangwa später. Zwar war der Mann Kriegstreiber, wurde später wegen seiner Taten in den USA festgenommen und an Ruanda ausgeliefert. Er war aber eben auch glühender Anhänger von Rayon Sports und eine Zeit lang Funktionär im Verein.

Geschichten wie diese zeigen das humanistische Potenzial auf, das der Ballsport hat. Nkundabanyanga verlässt sich aber nicht allein darauf. Denn er bettet den Fußball in andere Aktivitäten ein. »Nach jedem Spiel setzen wir uns zusammen, 20 bis 40 Minuten etwa, und sprechen über verschiedene Themen. Wir reden zum Beispiel über Menschenrechte. Was sind Menschenrechte? Wie kann man sie schützen? Was kann der Fußball dazu beitragen? Oder wir sprechen über Hygiene.« Ein guter Fußballer müsse sauber und klug sein, meint er. »Wie kann man ein guter Fußballer sein, wenn man faul ist oder wenn die Schuhe schmutzig sind und stinken. Wir helfen den Jugendlichen, die Bedeutung von Hygiene zu verstehen, sei es bezogen auf ihren Körper, ihre Kleidung oder auch den Ort, an dem sie schlafen.« Andere wichtige Themen sind die Gefahren von Drogensucht, durchaus ein Thema in Ruanda. Die Drogen kämen aus dem Nachbarland Kongo, so Nkundabanyanga – von dort also, wo ein unübersichtlicher Krieg zwischen Milizen unterschiedlichster Couleur tobt, teilweise auch mit Unterstützung aus Ruanda.

Dass in der Fußballakademie offen über Menschenrechte gesprochen wird, mag überraschen. Denn Organisationen wie Human Rights Watch kritisieren massive Menschenrechtsverletzungen durch Ruandas Regierung. Bei den letzten drei Wahlen gewann Präsident Paul Kagame von der RPF mit über 90 Prozent der Stimmen. Oppositionelle wie die frühere Präsidentschaftskandidatin Victoire Ingabire wurden eingesperrt, Dissidenten wie der frühere Geheimdienstchef Patrick Karegeya im Exil umgebracht.

Wenn Nkundabanyanga mit den Schülern seiner Akademie über Menschen- und Freiheitsrechte debattiert, erfolgt dies auf besondere Weise. »Wir sagen den Kids: ›Ihr seid frei zu sagen, was ihr denkt. Aber es muss konstruktiv sein. Sagt also, wenn ihr einen Lehrer einen Schüler schlagen seht, nicht öffentlich, dieser Lehrer schlage Schüler, oder an dieser Schule werde geschlagen.‹« Vielmehr rät er dazu, mit den Lehrern ein Gespräch zu führen und ihr Handeln zu hinterfragen – ob es ein guter Weg sei, Schüler zu erziehen, indem man sie schlägt. »Auf diese Weise kann man seine Meinungsfreiheit ausüben. Man wirkt aber nicht zerstörerisch, sondern hilft, eine Situation zu verbessern.«

Man spürt, dass es dem früheren Lehrer und derzeitigen Fußball- und Versöhnungsaktivisten vor allem darum geht, seine Schützlinge zu selbstständig denkenden Menschen zu erziehen. Über den Fußball will er ihnen eine Balance aus Freiheit und Verantwortung vermitteln. Mit inzwischen 14 000 Schülern in der Region hat die Organisation nach eigenen Angaben im Laufe der Jahre zusammengearbeitet. Sie besteht zum größten Teil aus Freiwilligen, darunter auch Helfern aus Deutschland. Eng ist die Zusammenarbeit mit dem Friedenskreis Halle. Auch die Berliner Ohde-Stiftung – von der Neuköllner Marzipan-Manufaktur Ohde gegründet – hilft finanziell.

Wenn ankommt, was Ladislas Nkundabanyanga zu vermitteln versucht – nämlich dass all jene, die schon einmal gemeinsam auf dem Fußballplatz standen, sich respektieren und schätzen –, dann kann die ruandische Version des »Nie wieder« – also niemals mehr ein Völkermord im Lande – tatsächlich wahr werden.

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