Brigitte Reimann: »Ich lasse mich nicht zwingen«

Der Mut, sich zu offenbaren: »Katja« vereint ungedruckte Erzählungen von Brigitte Reimann

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Bücher, die aus der Reihe fallen: Wandbild für Brigitte Reimann in ihrer Geburtsstadt Burg, Sachsen-Anhalt
Bücher, die aus der Reihe fallen: Wandbild für Brigitte Reimann in ihrer Geburtsstadt Burg, Sachsen-Anhalt

Sollte man, gerade wenn es sich um eine populäre Autorin handelt, alles veröffentlichen, was sich in Archiven findet? Im Fall der ungedruckten Erzählungen von Brigitte Reimann hat Herausgeber Carsten Gansel die richtige Entscheidung getroffen. Es sind Texte voller jugendlicher Energie, die Funken schlagen und einen befeuern. Was noch literarische Fingerübung war, beeindruckt durch den Mut, sich zu offenbaren.

Aufmüpfigkeit von Kindheit an. »Du sollst nicht aus der Reihe tanzen!«, lautet das oberste Gebot in der kleinen Stadt, wo Karla und Jonas zur Schule gehen, sie in die elfte Klasse, er in die zwölfte. Sie sind in dem Alter, in dem man sich verliebt – und die Eltern sich Sorgen machen. Schlimm aber ist, dass es dabei nicht wirklich um die Tochter geht. »Du bringst dich und mich in schlechten Ruf, wenn ihr ewig zusammensteckt«, schimpft die Mutter, »die ganze Stadt redet schon darüber …« Katja wird geohrfeigt, als sie widerspricht. Sie soll auf eine Heimoberschule gehen, also von Jonas getrennt werden. Und dann geschieht das denkbar Schlimmste.

Es ist das Jahr 1952. Dass Brigitte Reimann selber in der Oberschule in Burg unsterblich in einen Jungen verliebt war, konnten viele wissen. Wie weit ihr Konflikt ging, durfte aber niemand erfahren. »Wollen Sie mich ins Zuchthaus bringen?«, fragt der Arzt der Familie im Text. »Sie selbst war vor dem Abitur schwanger«, schreibt Carsten Gansel im Nachwort. »Die Umstände, die zum Schwangerschaftsabbruch führten, sind unklar.« Ab 1945 hatten die Länder der Sowjetischen Besatzungszone zwar Regelungen erlassen, die einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichten, nach Gründung der DDR aber war per Gesetz ein Abbruch nur noch aus medizinischen Gründen erlaubt. Erst ab März 1972 gab es die sogenannte Fristenlösung; erst 1993 wurde sie deutschlandweit übernommen.

Die Erzählung »Reifeprüfung« war damals ein Tabubruch. Weitere sollten folgen. »Ich lasse mich nicht zwingen« – dieser Satz aus der Erzählung »Ich werde in dieser Nacht allein sein« (1956) trifft generell auf Leben und Werk der Autorin zu. Der Text handelt von einer Dreiecksbeziehung, was ebenfalls einen autobiografischen Hintergrund hat. Der Bildhauerin Maria gelingt es leicht, sich daraus zu lösen: »Ich habe sieben Leben, ich werde an diesem Abschied nicht sterben.«

»Die Art und Weise, wie hier Mitte der 1950er Jahre souverän von weiblicher Lust erzählt wird, ist einzigartig in der DDR-Literatur und bleibt Jahrzehnte unerreicht«, schreibt Carsten Gansel. Überhaupt habe diese Schriftstellerin Fragen nach Gleichberechtigung und Emanzipation gestellt, »so früh wie wohl keine andere in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, mit Ausnahme der um sieben Jahre älteren Ingeborg Bachmann«. Früh habe sich Reimann »das Formarsenal der literarischen Moderne« erschlossen und damit »über literarische Techniken verfügt, um in kleinste Verästelungen der menschlichen Psyche vorzudringen«.

Ein Glücksfall war dabei auch, wie damals der persönliche Lebensplan einer jungen Frau mit gesellschaftlicher Aufbruchstimmung zusammenfiel. Was bedeutete, die Emanzipation der Frauen auch als Emanzipation der Männer zu begreifen. Einer möge für andere eintreten, aber über allem müsse das Wohl der Allgemeinheit stehen, wird im Laienspiel »Die Probe« (1948) betont, in dem es um das Verhältnis von Jungen und Mädchen in der Schule geht. »Wir leben nicht für uns allein, sondern wir leben für alle!« Das klingt noch pathetisch, plakativ, aber dahinter steht ein Ideal, das man heute schmerzlich vermisst.

Gesellschaftliche Utopie, verbunden mit persönlicher Sehnsucht nach einem sinnerfüllten, glücklichen Leben: Unter den neun bisher unbekannten Texten lässt »Bilder der halben Nacht« von 1961 schon an den Roman »Franziska Linkerhand« denken, der 1974 postum erschien. Alltagsszenen in einer »Stadt aus dem Baukasten, mit linealgeraden Straßen und struppigen, kleinen Bäumen«, wo sich am Weihnachtsabend Einsamkeit breitmacht.

Literarischer Höhepunkt des Bandes ist dann »Sonntag, den ... Briefe aus einer Stadt«. Es sind Texte für einen Dokumentarfilm über Neubrandenburg, wo Reimann seit 1968 lebte, in dem Manfred Krug singt, weshalb der Film auf den Index gesetzt wurde, nachdem Krug in Reaktion auf die Biermann-Ausbürgerung die DDR verlassen hatte.

Reimanns Filmfeuilleton entstand 1969/70, als die Autorin die ersten Krebsoperationen und eine bittere Trennung hinter sich hatte. Die Entdeckung des verschollen geglaubten Werkes durch Carsten Gansel ist eine Geschichte für sich. Die Fotos im Band sind dem Film entnommen. Es ist eine poetische Hommage an die alte, neue Stadt Neubrandenburg – und damit wohl überhaupt an das verschwundene Land DDR. Dass sie drei Jahre später nicht mehr leben würde, ahnte Brigitte Reimann nicht, doch spürbar ist hier schon ein leiser, melancholischer Ton.

Diese Frau hat für die Liebe gelebt, aber in erster Linie wohl für ihre Arbeit. »Wenn ich zwei, drei gute Bücher schreibe, ist mein Privatleben dagegen einen Pfifferling wert«, heißt es in ihrem Tagebuch.

Brigitte Reimann: Katja. Erzählungen über Frauen. Hg. u. m. einem Nachwort v. Carsten Gansel. Aufbau, 235 S., m. Abb., geb., 22 €.
Lesung mit Corinna Harfouch: 21.3., 20 Uhr, Deutsches Theater Berlin.

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