Was wäre, wenn?

Die Buchmesse beginnt passend zum Weltgeschichtentag

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Welttag für Geschichten ist das Gegenteil eines Tages für die Weltgeschichte. Und wenn schon Weltgeschichte, dann solche, bei der das Unvollendete aufblickt und ein jähes Moment vibriert: Was wäre, wenn ... Drei Worte für tollste, teuflischste, tapferste, tänzerischste Geschichten. In denen die Dinge auf der Kippe stehen und der Mensch, verängstigt oder tapfer, seinem Schicksal begegnet. Solche Geschichten lieben wir. Die dämonischen wie die lieblichen. In denen wir uns in Möglichkeiten hineinleben dürfen, die uns real versagt bleiben. Leider. Oder zum Glück.

Ödipus und Hamlet bleiben akute Wesen. Sophokles und Shakespeare sind Gegenwartsautoren – womit einfach nur gesagt ist, dass es in der Kunst keinen Fortschritt gibt: Das längst vergangene Alte ist das ewig Junge. Ja, verändere die Welt! – aber wisse um die Grenzen, die aller Existenz grundsätzlich eingeschrieben bleiben; da kannst du dich noch so links oder ironisch gebärden. Ja, halt ein! – aber wag trotzdem Horizonte, die mit Neuland locken. Wahrscheinlich wären wir in der Evolution nicht weit gekommen, hätten wir uns außer mit Kleidern nicht auch mit Illusionen und Vorstellungen gewärmt.

Einzig eine Erzählkunst, die ihr Material ständig durch die Zensur eines vernunftgefesselten Bewusstseins schleust, kann sich jener Art annähern, in der wir tagnächtlich träumen: nämlich synchron, rücksichtslos, ungeschützt, chaotisch, wild. Diese Wirkung von guten Geschichten (Liedern oder Bildern) zur richtigen Zeit kennen wir doch alle. Grandios! Wenn vom Lesen, Sehen und Hören in deinen Ohrgängen plötzlich Chöre nisten, dass es dich vor inwendigem Brausen auf die Zehenspitzen hebt. Ringsum verfallen die Glocken sofort in wildfröhliches Läuten. He, und was doch alles, mit einem Mal!, das Zeug zu Glocken hat! Jedes Nebengeräusch! Jetzt leg ehrlichen Sinnes falsch Zeugnis ab: Die Welt ist schön! Das Bier schmeckt dir, obwohl andere noch immer kein gutes Wasser haben. Das gehört zur Wahrheit deiner Empfindungen: Auch der Gewissensbiss weiß zartes gebratenes Fleisch zu schätzen.

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Es war einmal – das sagen die Märchen, weil sie auf eine Zukunft hoffen, in der sie noch immer nicht gestorben sind. Es war einmal? Nichts ist erledigt, nur weil es vorbei ist. Schaut nur genau hin: Das tapfere Schneiderlein trägt heute einen Sprenggürtel: Sieben und mehr auf einen Streich. Woyzeck kauft die Erbsen, die er fressen muss, bei Lidl. Kohlhaas hofft in Guantánamo auf einen wirklich neuen US-Präsidenten. Und Iphigenie, die Beispielhafte, wohnt still und unbemerkt im Nachbarhaus. Wieder mal weiß niemand von ihrer Größe, ihrem Mut. Indes die Catilinas dieser Welt fortwährend Interviews im »Spiegel« kriegen.

Die Wirrnis des Lebens: Es muss dunkel werden, damit wir die Sterne sehen. Und dass die Liebe ewig ist, zeigt sich daran, dass jeden Moment irgendwo eine Liebe stirbt. Geschichten erzählen uns: Wir sind roh und rein zugleich. Du bist begrenzt, aber in dir ist doch alles denkbar. Das gute Böse, das böse Gute. Wie nur fügt sich alles? Indem es gegeneinander kämpft: das Erhabene gegen das Niedrige, das menschlich zutiefst Ehrsame gegen das menschlich zutiefst Grausame. Nie getrennt, sondern »inniglich verknetet wie ein Teig« (Kleist), und oft ist das Edle die größere Lüge als das Dreckige. Reizloser ist es eh. So ist der Mensch. So sind die Leute, die anderen – schau dich doch nur um. Pass aber auf, an manch einer Wand hängt ein Spiegel.

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