Faysa Idle: »Es ist so viel Blut geflossen«

Die Autorin Faysa Idle über Bandenkriege, ihr Aufwachsen in Stockholm und die Kraft der Poesie

  • Interview: Niklas Franzen
  • Lesedauer: 7 Min.
Mit ihrem Buch »Ein Wort für Blut« sorgte die Autorin Faysa Idle in Schweden für viel Aufmerksamkeit.
Mit ihrem Buch »Ein Wort für Blut« sorgte die Autorin Faysa Idle in Schweden für viel Aufmerksamkeit.

Frau Idle, ihr autobiografisches Buch »Ett ord för blod« (»Ein Wort für Blut«) sorgte in Schweden für viel Aufmerksamkeit. Wie haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Ich schreibe Gedichte, seit ich 15 Jahre alt bin. Das erste Mal tat ich das im Krankenhaus, als mein bester Freund starb. Ich konnte nicht weinen. Also nahm ich einfach ein Papier und einen Stift und begann zu schreiben.

Ihr Buch ist also autobiografisch?

Ja, es geht um mich. Es handelt von einer Frau, die mit Gangs aufgewachsen ist. Mein Bruder war ein Bandenanführer. Und mein bester Freund, der 2015 getötet wurde, gehörte zu einer anderen Gang. Sie waren Rivalen, ich stand dazwischen. Es war die Generation, mit der alles anfing. Wir waren jung und wussten nicht, dass es so eskalieren würde. In meinem Buch geht es auch darum, eine Frau zu sein und Träume zu haben, sie aber wegen der Umstände nicht verwirklichen zu können. Wenn Menschen um einen herum sterben, verliert man seinen Lebenssinn. Man hasst das Leben.

Sie schreiben viel über ihre Freund*innen und das Leben auf der Straße. Warum ist das so wichtig für Sie?

Interview


Faysa Idle ist Autorin und im Nordwesten Stockholms in einer somalischen Familie aufgewachsen. Im September 2023 erschien ihr Buch »Ett ord för blod« (Ein Wort für Blut, bisher nur auf Schwedisch). Seit der Veröffentlichung lebt sie an einer geheimen Adresse.


Die ungeschriebenen Regeln

Ganz ehrlich, wo fängt man an?

Wie findet man den Pfad

Die Kraft zu den Schritten

Traut man sich den Traum zu träumen

Die Sehnsucht

Die stärker wird

Die Wunden, die tiefer gehen

Leere Seelen, die hinter den Tischen ducken

Uns in schmutzigem Geld kleiden

Loyalität geht auf Kosten

Gibt dir nur einen Platz, wenn du dich nützlich machst

Straßenpolitik

Du tust, was du tun musst

Willkommen in meinem Zuhause

Wo wir Rache servieren

Blutsbande im brennenden Feuer

Binden

Den Verlust seines Bruders

Mit sich tragen

Wo der Himmel voller Trauer ist

Hier verbiegen sich

Die Kodes für niemanden

Der Film wiederholt sich

In welchem der Verbrecher zubeißt

Die Opfer weinen

Jemand muss

Die ungeschriebenen Regeln in Frage stellen

Übersetzt aus dem Schwedischen von Linnéa Deurell

Unsere Eltern haben drei, vier Jobs. Wenn unsere Mütter von der Arbeit kommen, sind sie todmüde. Es ist nicht ihre Schuld, sie müssen schließlich dafür sorgen, dass wir etwas zu essen bekommen. Also sind wir viel draußen. Wenn wir draußen Freunde finden, werden sie zu unserer Familie. Wir empfinden große Liebe für sie. Wir wollen einfach irgendwo dazugehören. Egal, ob es gut oder schlecht ist.

Wie wurden Sie in den Konflikt hineingezogen?

Es begann unschuldig. Mit der Zeit wurde es aber immer gewalttätiger, auch weil mein Bruder bekannter wurde. Die anderen Gangs benutzten mich, um an ihn heranzukommen. 2018 überfielen mich sechs oder sieben Typen. Es kam der Tag, an dem nicht nur ich zur Zielscheibe wurde, sondern auch meine Freunde. Dann wurde mein älterer Bruder getötet. Er war Taxifahrer und hatte vier Kinder. Er studierte Medizin, wollte Arzt werden.

Früher war Schweden eines der sichersten Länder der Welt, heutzutage hat das Land die zweithöchste Mordrate Europas. Wie haben Sie diese Entwicklung wahrgenommen?

Früher verkauften die Jungs Drogen, fuhren gute Autos und waren diskret. Sie haben uns nicht gestört, haben ihr eigenes Ding gemacht. Doch nun sind wir alle involviert. Man muss sich entscheiden, wo man steht. Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, wirst du zum Problem. Dennoch war Tensta (Stadtteil von Stockholm, Anm. d. Red.) ein netter Ort, um aufzuwachsen. Doch auf einmal begannen ehemalige Freunde, sich gegenseitig zu töten. Sie hassen sich heute so sehr, weil sie sich einmal geliebt haben. Es ist so viel Blut geflossen, dass man keinen Frieden mehr schließen kann.

Würden Sie sagen, dass auch der schwedische Staat gescheitert ist?

Ja, natürlich. Wenn die Segregation nicht so groß wäre, könnten wir eine Menge verändern. Viele unserer Leute studieren, finden aber keine Arbeit. Ihre Stimmen werden nicht gehört.

Ihr Buch löste eine breite Debatte aus. Gibt es ein Umdenken?

Schweden war schockiert, dass eine Frau über diese Dinge schreibt. Ich war die erste Frau, die das tat. Ich erzähle die Wahrheit und romantisiere nicht. Es ist einfach brutal ehrlich. Das Buch hat viel Wirbel gemacht, sogar Politiker lesen es.

Wollten Sie mit ihrem Buch auch eine Botschaft senden?

Ja. Ich wollte, dass Politiker die Realität verstehen, damit sie etwas dagegen tun können. Ich habe es auch für die Frauen geschrieben, die nie eine Stimme hatten. Ich wollte ihnen Hoffnung geben, weil ich selbst keine Hoffnung hatte.

Wenn man Ihre Texte liest, hat man das Gefühl, es existieren mehrere Schwedens, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen.

Ja, es gibt zwei verschiedene Welten in diesem Land.

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Für dieses Interview sitzen wir in einem Fünf-Sterne-Hotel im Zentrum Stockholms. Wie fühlt sich das an, in zwei Welten zu leben?

Ehrlich gesagt, es ist ein bisschen verwirrend. Ich mache das hier am Montag, und samstags bin ich mit meinen Mädels unterwegs. Sie führen das Leben, das ich früher gelebt habe. Ich möchte diesen Teil von mir nicht verlassen und eine Brücke bauen. Aber ich will auch nicht zurückblicken, mein Leben jetzt ist gut.

Fühlen Sie sich als Teil der schwedischen Gesellschaft?

Nein. Und ich kenne niemanden von uns, der das tut. Deshalb haben wir auch keinen Respekt vor dem System. Als wir jung waren, sagten uns die Lehrer: »Aus euch wird eh nichts.« Ich habe mich als junger Mensch nicht sehr willkommen gefühlt.

Viele Ihrer Gedichte handeln von Leid und Schmerz. Wie schwer ist es, darüber zu schreiben?

Es ist hart, weil ich dorthin zurückkehren muss, wo der Schmerz herkommt. Aber ich kann es mir nicht anders vorstellen. Wo ich herkomme, sprechen die Menschen nicht über ihre Gefühle, sie leugnen einfach alles. Wenn eine Person über etwas schreibt, das sie kennt, kann sie etwas bewirken. Ich will zum Nachdenken anregen.

Hatten Sie schon immer diese Leidenschaft für Literatur und Poesie?

Als Kind habe ich viel gelesen. Ich habe eine Menge Geschwister und Tanten. Bei uns zu Hause waren immer viele Menschen, zehn oder elf Leute in einem Schlafzimmer, viel Lärm. Deshalb setzte ich mich in meinen Kleiderschrank, um zu lesen.

Gab es einen Wendepunkt in Ihrem Leben?

Ja. 2020 waren wir für die Hochzeit meines Bruders außerhalb von Stockholm. Irgendwann hörten wir in den Nachrichten, dass drei junge Männer mit Gewehren auf dem Weg zu uns waren. Sie wollten ihn und uns zu töten. Auf uns war ein Kopfgeld ausgesetzt. Das konnte ich noch verstehen, wir sind Familie. Aber auch Gäste sollten getötet werden, unschuldige Menschen. An diesem Tag hat sich etwas in mir verändert. Ich war meinem Bruder gegenüber immer sehr verständnisvoll. Ich habe ihm nicht geholfen, mich herausgehalten, aber ich konnte mit ihm fühlen. Aber an diesem Tag fragte ich mich: Unterstütze ich einen Mann, der in der Lage wäre, unschuldige Menschen zu töten?

Kam es dann zu einem Bruch mit Ihrem früheren Leben?

Mit allem. Meine Freunde aus der Kindheit grüßen mich nicht mehr, das tut meinem Herz weh. Aber so muss es sein. Ich liebe meinen Bruder, aber ich habe mich verändert. Meine Arme sind offen für ihn – aber nicht, wenn er diese Art von Leben führt.

Wie fühlt es sich an, nicht mehr in Ihre alte Nachbarschaft zurückkehren zu können?

Ich habe keine Angst. Aber man kann nicht an einen Ort zurückkehren, an dem so viel Schlimmes passiert ist. Die Menschen haben kein Lächeln mehr im Gesicht, sie sind deprimiert. Selbst der Himmel sieht nicht mehr so aus wie früher. Dieses Buch hat mich wieder zum Leben erweckt. Ich hatte vorher einen Job, war Wachfrau. Aber ich hatte keine Hoffnung. Jetzt tue ich etwas für die Gesellschaft. Und ich sehe, was meine Kunst bewirkt.

Was kommt jetzt für Sie?

Dort, wo ich herkomme, haben die Menschen große Schwierigkeiten, Dinge in Worte zu fassen. Aber sie haben eine Menge zu erzählen. Ich möchte dafür sorgen, dass sie ihre Geschichten erzählen.

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