Befriedigte Genervtheitserwartung

Leo Fischer beobachtet eine Tragödie, bei der die Protagonisten ihr Unglück gleich selbst mitbringen

Manchmal ist auch die beste Vorbereitung auf einen Restaurantbesuch vergeblich.
Manchmal ist auch die beste Vorbereitung auf einen Restaurantbesuch vergeblich.

Es ist ein Restaurant, das vor sich selber warnt: Alle Gerichte werden handwerklich hergestellt, Wartezeiten seien deshalb gnädigst in Kauf zu nehmen, heißt es auf der Homepage. Es ist durchaus kein »gehobenes« Restaurant, eher eine Kneipe mit angeschlossener Küche. Die drei feinen Personen, die gerade an den Nebentisch gesetzt werden, sind schon im Moment ihrer Ankunft sichtbar genervt, oder besser: in Genervtheitsbereitschaft. Alles nervt sie: die Kneipenatmosphäre, das Warten, die Formlosigkeit der Bedienung. Sie sind overdressed, ihren Gesichtern sieht man an, dass sie selten das Wort »nein« hören.

Die Bedienung kommt und nimmt die Bestellung entgegen, es gibt eine Sprachbarriere, die Namen der Gerichte sind selten, nicht sofort verständlich. Die Bedienung erklärt sie geduldig, weist freundlich darauf hin, dass alle Gerichte große Portionen und zum Teilen gedacht seien; ein erster komischer Moment entsteht aus der Fassungslosigkeit, mit der die drei Personen auf das Wort »teilen« reagieren, als hätten sie es noch nie gehört.

Nun beginnt die Wartezeit, eine der drei Personen nimmt sie sehr persönlich, studiert mit wachsender Verkniffenheit ihr Mobiltelefon, eine Konversation findet nicht statt.

Ein »Gruß aus der Küche« wird ihnen gebracht, sie haben ihn nicht bestellt, sind empört über die Überraschung, wollen sie zurückgehen lassen, bis ihnen die Bedienung den Sinn auch dieser Geste erklärt. Misstrauisch knabbern sie an der ungewöhnlichen Speise, zwei Teller bleiben unberührt. Ein weiteres Gericht wird gebracht, sie erkennen es nicht wieder, können es auch gar nicht wiedererkennen, denn sie hatten schon ihre eigene Bestellung nicht verstanden. Naturgemäß verlängert sich jetzt alles, denn wie sollen Gerichte pünktlich kommen, die sie in die Küche zurückgehen lassen? Die eine Person versenkt sich mit bebender Unterlippe in ihr Mobiltelefon, die anderen sehen sie mit ähnlichem Gesichtsausdruck an: Es wird nicht ganz klar, ob ihr Zorn der Situation gilt oder der befreundeten Person, deren stille Wut jedes Gespräch erstickt. Irgendwann kommen die Speisen an den Tisch zurück, es sind die erwarteten Riesenportionen, die sie trotz Warnung bestellt haben. Jede der Personen sitzt nun vor ihrer jeweiligen Riesenportion und löffelt sie mit verquälter Miene in sich hinein. Ihr Unglück ist perfekt, ihre Genervtheitserwartung wurde vollständig befriedigt. Mit Mühe schaffen sie es, nicht zu schreien, als sie nach wenigen Bissen die Rechnung verlangen: Das Gericht schmeckt nicht wie etwas, das sie kennen, also schmeckt es nicht. Exeunt.

Für den Betrachter vom Nebentisch war es ein Schauspiel, eine griechische Tragödie, in der Personen von Stand schuldlos schuldig wurden, zwangsläufig ins Unglück liefen, das ihr Charakter selbst ist, Determination der Handlung. Alles war vergeblich, die elegante Kleidung, das gemeinsame Aussuchen des Restaurants, die Erwartung, der Smalltalk, alles umsonst, weil sie ihr Unglück schon mitgebracht hatten, das Unglück der Entfremdung, die ihnen jenen Genuss vorenthält, den sie doch zugleich überlebensnotwendig macht.

Leo Fischer

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

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