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  • 30 Jahre nach dem Genozid

Ruanda im eisernen Griff

Während der ehemalige Rebellenführer Paul Kagame an seiner Langzeitherrschaft bastelt, schwelt der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi weiter

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 6 Min.
Ruandas Präsident Paul Kagame bei einer Wahlkampfveranstaltung in Gakenke
Ruandas Präsident Paul Kagame bei einer Wahlkampfveranstaltung in Gakenke

Die 100-Prozent-Marke wird Paul Kagame auch bei den Präsidentschaftswahlen im Juli verwehrt bleiben, weit davon entfernt landen wird er allerdings nicht. Schon seit 20 Jahren stellt sich Ruandas Langzeitherrscher Wahlen mit handverlesenen Gegnern, und unter 93 Prozent hat er es nie gemacht. 2010 und 2017 lag er sogar über 98 Prozent und das bei Wahlbeteiligungen von offiziell über 90 Prozent. »Ruanda ist ohne Wenn und Aber eine präsidiale Diktatur«, sagt der Ruanda-Experte Gerd Hankel im Gespräch mit »nd«. Der Hamburger Völkerrechtler ist ein Kenner der Region und Autor mehrerer Bücher, gerade im März erschienen ist »Ruanda 1994 bis heute«. Kagame werde von dem Regime Wohlgesonnenen vielfach »gesehen als eine Art Mwami, wie ein Tutsi-König im vorkolonialen Ruanda tituliert wurde«. Ein Alleinherrscher, den niemand infrage stellt.

Präsident ist Kagame seit 2000, die Zügel der Macht hält er jedoch bereits seit 1994 in den Händen. In jenem Jahr war Kagame als Anführer der Tutsi-dominierten Guerilla der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) aus dem ugandischen Exil zurückgekehrt. Dorthin war er 1959 im Alter von zwei Jahren mit seiner adeligen Familie vor einer sozialen Revolte von Hutu geflüchtet. Unter seiner Führung gelang es, das für den Völkermord verantwortliche Regime von Hutu-Chauvinisten zu stürzen und viele Täter in die Flucht zu schlagen.

Massengräber tauchen immer noch auf

30 Jahre ist der Völkermord in Ruanda nun her. Noch immer werden in dem sogenannten Land der 1000 Hügel mit seinen rund 14 Millionen Einwohner*innen gelegentlich Massengräber entdeckt. Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi schwelt in Ruanda weiter und wird in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo bewaffnet ausgetragen. Dort hat Ruandas Armee die kongolesischen Tutsi-Rebellen der M-23 (Bewegung des 23. März) ausgerüstet und eigene Truppen geschickt, um die ruandischen Hutu FDLR-Milizen zu bekämpfen, deren Vorläufer maßgeblich in den Völkermord involviert waren. Der 1994 30-jährige Unterleutnant Eziéchiel Gakwerere ist heute der zweithöchste Kommandant der FDLR im Kongo.

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Ob die Völkermordideologie unter den Hutu an sich fortlebt, ist umstritten, nicht jedoch die tief sitzenden Ressentiments gegenüber den Tutsi: »Es gibt tatsächlich im Ostkongo einen unheimlichen Hass auf ruandische Tutsi und auf kongolesische Tutsi, die sogenannten Banyamulenge-Tutsi. Letztere werden als verlängerter Arm der Kagame-Regierung in Kigali wahrgenommen. Und der Hass rührt daher, dass seit 1996 ruandische Truppen oder mit Ruanda verbündete Milizen wie die M-23, die im Osten Kongos Massenverbrechen begehen, für Morde und Vertreibungen verantwortlich sind«, analysiert Hankel. Dass die kongolesische Zentralregierung nicht in der Lage sei, dieses Problem zu lösen, verstärke die Wut bei der lokalen Bevölkerung im Osten Kongos zusätzlich, fügt der Wissenschaftler hinzu.

Die Situation im Osten Kongos ist dramatisch, Ruanda ist oberflächlich befriedet. »Der Versöhnungsprozess ist weiter auf einem schwierigen Weg, weil die Tabus fortbestehen. Vieles von dem, was zwischen Beginn des Bürgerkrieges im Oktober 1990 und dem Völkermord 1994 geschehen ist, kann in Ruanda nicht thematisiert werden«, beschreibt Hankel den Stand der Aufarbeitung. In der offiziellen Wahrnehmung Ruandas gebe es nur eine Kategorie von Opfern: die Völkermordopfer. »Die anderen Opfer, die des Bürgerkriegs und die der gewaltsamen Befriedung des Landes, werden im öffentlichen Diskurs nicht erwähnt. Das belastet die Versöhnung«, erklärt Hankel.

Seit dem Genozid 1994 hat das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt mit jährlich hohen Wachstumsraten von fünf bis acht Prozent. In Ruanda wurde massiv in das Bildungs-, vor allem aber in das Gesundheitswesen investiert. Im ganzen Land wurden Kranken- und Servicestationen aufgebaut. Die Lebenserwartung ist gestiegen und die Kindersterblichkeit gesunken. Nach einem Abschwung durch die Pandemie hat die Konjunktur wieder Fahrt aufgenommen. Die Weltbank geht für 2024 von einem Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent aus und setzt Ruanda damit in Subsahara-Afrika auf Platz drei der am schnellsten wachsenden Märkte.

Die Wohlstandsschere geht weiter auseinander

Die soziale Situation hat sich zwar verbessert, doch ist das Ausmaß der Armut weiter größer als in anderen afrikanischen Ländern derselben Einkommenskategorie. Laut Weltbank muss rund die Hälfte der Einwohner mit weniger als 2,15 US-Dollar am Tag auskommen, 2005 waren es indes noch zwei Drittel. Hankel war zuletzt im Dezember 2023 wieder vor Ort und stellte fest: »Die Wohlstandsschere zwischen Stadt und Land hat sich in den vergangenen Jahren keinesfalls geschlossen, sondern sogar weiter geöffnet.« Die Entwicklung von Stadt und Land driftet seit Langem auseinander. In der Stadt konzentriert sich der Reichtum in den Händen weniger. Gemessen am Gini-Koeffizienten ist Ruanda das Land mit der zweithöchsten Ungleichverteilung der Einkommen in der Kategorie der Niedrigeinkommensländer.

Fotos von Völkermordopfern im Genocide Memorial in der ruandischen Hauptstadt Kigali
Fotos von Völkermordopfern im Genocide Memorial in der ruandischen Hauptstadt Kigali

Kagame prüft persönlich, wie die Entwicklung voranschreitet: Jeder der 30 Distriktchefs muss einmal im Jahr dem Präsidenten einen Fortschrittsbericht abliefern und dabei auch vortragen, wie sich Mutter- und Kindersterblichkeit, Geburtenrate und der Einsatz von Verhütungsmitteln entwickelt haben. Werden die Planziele nicht eingehalten, bedarf es einer guten Begründung, sonst droht die Entlassung und das ist alles andere als selten.

Kagame duldet keinen Widerspruch. Zeitungen und Parteien werden verboten, Journalisten verschwinden, abtrünnige Regierungsmitglieder sterben seltsame Tode. Kritik aus dem Westen kontert er mit einer einfachen Frage: »Wo war denn der Westen, wo waren die Vereinten Nationen, als 1994 der Genozid begann?« Ende der Diskussion. »Opposition ist nur zugelassen, wenn sie konstruktiv ist, und was konstruktiv ist, bestimmt die Staatsmacht im Zirkel um Kagame«, sagt Hankel. Ein illustres Beispiel dafür ist Frank Habineza, ein Tutsi und Chef der Demokratischen Grünen Partei Ruandas (DGPR), die es nach unzähligen Anläufen zur Registrierung gebracht hat. Seit den vergangenen Parlamentswahlen 2018 hat die DGPR sogar zwei Abgeordnete im 80 Sitze fassenden Parlament. »Es ist das erste Mal seit 24 Jahren, dass wir Oppositionsabgeordnete im Parlament haben«, sagte Habineza damals der kenianischen Wochenzeitung »The EastAfrican«. »Dies ist ein Meilenstein, der die Öffnung des politischen Raums in Ruanda signalisiert.« Das Parlament wird seit Jahrzehnten von Kagames RPF beherrscht, die anderen kleinen Parteien jenseits der Grünen stehen hinter der RPF und werden von den Sozialdemokraten mit fünf Sitzen angeführt. Die Mehrheit der Parlamentarier*innen stellen Frauen, auch weil ihnen wahlunabhängig ein Kontingent von 24 Sitzen zusteht, das von der RPF kontrolliert wird. »Habineza kann ab und zu etwas öffentlich sagen, wenn es in den Mainstream-Dikurs passt. Am Staatsverständnis rütteln darf er nicht«, bringt Hankel den Spielraum der Opposition auf den Punkt. Habineza war auch die einzige vernehmbare Stimme, die sich gegen den Flüchtlingsdeal mit Großbritannien ausgesprochen hat. Generell habe seine Partei nichts gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, »aber die Menschen aus Großbritannien haben nie darum gebeten, nach Ruanda zu kommen«, sagte Habineza der Wochenzeitung »Die Zeit«. »Das sind nicht unsere Flüchtlinge, sondern die der Briten.«

Bei den Wahlen im Juli wird Habineza wieder gegen Kagame antreten. Chancen hat er nicht. Kagame baut seine Herrschaft aus. Qua Verfassungsänderung hat er sich 2015 die Option auf zwei weitere Amtszeiten ab 2024 verschafft, die dann nur noch fünf statt sieben Jahre währen würden – bis 2034. Mit 77 Jahren wäre er dann immer noch ein Jahr jünger als US-Präsident Joe Biden bei seinem Amtsantritt 2021.

Völkermord in Ruanda

Am 6. April 1994 nahm der Völkermord in Ruanda mit dem Putsch von Hutu-Extremisten seinen Ausgang. Sie schossen den gemäßigten Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana mit seinem Flugzeug ab. Danach begannen sie, systematisch Tutsi und gemäßigte Hutu zu töten. Innerhalb von nur 13 Wochen wurden in einer detailliert geplanten Aktion rund eine Million Menschen umgebracht. Die westliche Beteiligung hat die Journalistin Linda Melvern belegt – vom französischen Militär, das die Hutu-Killer ausbildete, über die USA, die Abhörbeweise- und Satellitenfotos bis heute unter Verschluss halten, bis hin zur britischen Regierung, die wie die belgische Ex-Kolonialmacht Hinweise auf den bevorstehenden Völkermord ebenso ignorierte wie die Vereinten Nationen. Der Kommandeur der UN-Blauhelme in Ruanda, General Roméo Dallaire, hatte zuvor die UN vergeblich um mehr Unterstützung gebeten. In dem Völkermord entlud sich ein Konflikt, dessen gesellschaftliche und politische Wurzeln auf die Kolonialisierung Ruandas durch Deutschland und Belgien zurückgehen. Zuvor gab es Jahrhunderte währende Bindungen und gemeinsame Traditionen zwischen Hutu und Tutsi. Erst die von den Kolonialmächten rassistisch begründete Ungleichbehandlung der Bevölkerungsgruppen erzeugte eine Spaltung zwischen der dominierenden Tutsi-Minderheit und der unterdrückten Hutu-Mehrheit. Dies führte zu einer ungerechten Sozial- und Herrschaftsstruktur. Auch waren es erst die belgischen Kolonialherren, die Personalpapiere und damit die Unterscheidung zwischen Hutu, Tutsi und Twa einführten. Damit verfestigte sich über Jahrzehnte die Wahrnehmung der einzelnen Mitglieder der Bevölkerung, einer bestimmten Ethnie anzugehören. Das kulminierte im Oktober 1990 in einen Bürgerkrieg, der schließlich in den Völkermord 1994 mündete. ml

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