Tarifvertrag für Assistenten: Anerkennung mit Ablaufdatum

Betroffene schlagen Alarm: In Berlin sei die Assistenz mit Persönlichem Budget in Gefahr

Die Arbeitsbedingungen für Assistent*innen, die direkt bei den Assistenznehmer*innen angestellt sind, sind besonders herausfordernd.
Die Arbeitsbedingungen für Assistent*innen, die direkt bei den Assistenznehmer*innen angestellt sind, sind besonders herausfordernd.

Wer eine stark einschränkende Behinderung hat und auf Unterstützung in der alltäglichen Lebensführung angewiesen ist, hat im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, Unterstützung in Form von sogenannten Assistenzleistungen zu bekommen. Zum einen gibt es das Dienstleistungsmodell, mit dem die Versorgung über die diversen Pflegedienstleister abgedeckt wird. Und dann ist da noch das Arbeitgeber*innenmodell: Menschen mit Assistenzbedarf organisieren sich ihre Versorgung selbst. Sie erhalten nach dem Neunten Sozialgesetzbuch ein sogenanntes Persönliches Budget statt unmittelbarer Sach- und Dienstleistungen. Dieses Modell soll eine umfassendere Selbstbestimmung gewährleisten.

Die Assistenzkräfte sind dann direkt bei den Assistenznehmer*innen angestellt. 2021 schlossen die Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber*innen mit persönlicher Assistenz (AAPA) und die Gewerkschaft Verdi einen Tarifvertrag zur Regelung des Arbeitsverhältnisses und der Bedingungen der Assistenzkräfte – ein Pionierwerk. Finanziell wird der Tarifvertrag vom Land Berlin getragen. Doch genau hierüber besteht zwischen den Tarifpartnern einerseits und dem Land Berlin andererseits Streit. Dahinter steht auch die größere Frage: Kann oder will der Senat den Tarifvertrag als solchen anerkennen und eine Finanzierung dauerhaft zusagen?

Die Fraktionen der Grünen und Linken im Berliner Abgeordnetenhaus hatten für Donnerstag mit dem Tarifvertrag befasste Akteure geladen, um »aktuelle Herausforderungen bei der Umsetzung des Tarifvertrages« zu diskutieren. Im Mittelpunkt des Unmuts: Ein Schreiben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales an die Arbeitgeber*innen mit persönlicher Assistenz, die laut Jules Butzek, Vorstand der AAPA, Anfang des Jahres an alle Arbeitgeber*innen im Verband verschickt wurden.

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Das Lageso, Berlins Landesamt für Gesundheit und Soziales, beruft sich in einem dieser Schreiben, das »nd« vorliegt, auf eine Fachliche Weisung der Sozialverwaltung. Die Weisung zur Umsetzung des Tarifergebnisses sei demnach bis zum 31. Dezember 2025, bis zum Ende des laufenden Doppelhaushalts, gültig. Daraus ergebe sich, dass die Arbeitsverträge lediglich eine Vergütungsverabredung enstprechend der Entgeltgruppe 3 des Tarifvertrags der Länder (TV-L) enthalten können. Eine Entlohnung nach Entgeltgruppe 5 des TV-L werde dadurch erreicht, dass eine »bis maximal 31. Dezember 2025 befristete Zulage gezahlt« werde. Weiter heißt es: »Bitte tragen Sie eigenständig für eine dementsprechende Gestaltung der Arbeitsverträge Ihrer angestellten Assistenzkräfte Sorge.«

Daran wird deutlich: eine wirkliche dauerhafte Anerkennung samt Finanzierungszusage gibt es nicht. Der Tarifvertrag gilt de facto nur bis zum 31. Dezember 2025 befristet. Einer der Gründe für den Abschluss des Tarifvertrages war, dass die Arbeitgeber*innen mit persönlicher Assistenz gegenüber den Assistenzdienstleister*innen nicht ins Hintertreffen geraten wollten. Deren Beschäftigte hatten mit Verdi eben eine dauerhafte Zusicherung eines Entgeltes nach Entgeltgruppe 5 des TV-L erreicht. Je nach Betriebszugehörigkeit liegen zwischen Entgeltgruppe 3 und 5 heute 150 bis 250 Euro Brutto-Einkommensunterschied pro Monat.

Seit 2019 boten die Assistenzdienstleister*innen demnach bessere Arbeitsbedingungen. Die Arbeitgeber*innen mit Persönlichem Budget bangten um ihr Personal, schließlich seien auch Anforderungen an die Assistenzkräfte hier größer, sagt Petra Stampfl vom Berliner Assistenz Verein (BAV). Die Assistent*innen müssten in Krankheitsfällen füreinander einspringen. Wenn Probleme mit den Assistenznehmer*innen bestünden, würden sie in der Regel direkt gekündigt, anstatt in anderen Teams eingesetzt. BAV bietet Beratungen für Menschen mit Behinderungen an, die ihre Versorgung nach dem Persönlichen Budget regeln wollen. Die Tarifparteien sehen durch die nur befristete Gleichstellung der Assistent*innen beider Modelle und die nicht vollumfängliche Anerkennung des Tarifvertrags das Modell des Persönlichen Budgets allgemein in Gefahr. Sie fordern eine dauerhafte Anerkennung.

In der hitzigen Debatte im Abgeordnetenhaus wies die Senatsverwaltung den Vorwurf zurück, eine vollumfängliche Anerkennung des Tarifvertrags gar nicht zu wollen. Dass man trotz der Einsparungsansprüche an sein Haus die notwendigen zwölf Millionen für die Finanzierung der höheren Entgelte beschafft habe, spreche eben für genau den Willen der Koalition, erklärte der Ausschussvorsitzende Lars Düsterhöft (SPD). Staatssekretär Aziz Bozkurt (ebenfalls SPD) wies darauf hin, dass der Senat eine Finanzierung für den genannten Zeitraum auch zusichere, wenn die tatsächlichen Kosten noch höher liegen sollten. Die dauerhafte Finanzierung stünde unter dem Vorbehalt, dass das Abgeordnetenhaus für den kommenden Haushalt genug Gelder bereitstelle, sagte Bozkurt.

Er sehe nicht, dass der Senat hier einen Ermessensspielraum habe, sagte Christoph Wapler von den Grünen. Auch Damiano Valgolio (Linke) erklärte, dass sich eine ortsübliche Vergütung aus dem Sozialgesetzbuch ergebe.

Aufhorchen ließ eine Bemerkung der Leiterin der Abteilung Soziales der Senatsverwaltung, Catharina Rehse: »Ist das ein echter Tarifvertrag?«, stellte sie in den Raum, schließlich würde die AAPA ja über einen Vertrag verhandelt haben, den sie selbst nicht finanzieren müsste. »Wo ist da das Ende der Fahnenstange? Entgeltgruppe 8?«

»Ich will sehr gerne glauben, dass die Abgeordneten unseren Tarifvertrag wollen«, sagte Butzek von AAPA, »aber für eine tatsächliche Anerkennung braucht es eine unbefristete Finanzierungszusage«.

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