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Gründet Kollektivbetriebe!
Schritt für Schritt zum erfolgreichen Arbeiten ohne Chef – mehr betriebliche Demokratie für alle
Die Welt zu verändern, schreiben sich viele Menschen auf die Fahne. Den Mut zu haben und einen solchen Weg zu gehen, gestaltet sich dann schon viel schwieriger. Wie soll das gehen: wirtschaften jenseits des Kapitalismus innerhalb dieses Wirtschaftssystems? Während die einen die Möglichkeit zur Veränderung schon im Hier und Jetzt für möglich halten, verwerfen andere Linke dies mit dem Verweis, dass es ohne Revolution nicht gehe.
Der Wunsch, Teil ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zu sein, in Anbetracht multipler Krisen, besteht dennoch. Von Bürger-Energie-Genossenschaften, die gemeinsam Windkraft- oder Photovoltaik-Anlagen betreiben, oder dem Mietshäuser-Syndikat, das Immobilien dem Markt entzieht, bis hin zu solidarisch organisierten Bauernhöfen (CSA) oder Kommunen gibt es viele Menschen, die auf unterschiedlichen Wegen versuchen, dem Kapitalismus ein Schnippchen zu schlagen.
Größere Bekanntheit genießen diese Ansätze lediglich in Kreisen linker Politik. Darüber hinaus werden sie nur wenig wahrgenommen, oft schon in der Gründungsphase mit Kritik überhäuft – und sind dennoch enorm wichtig, weil Demokratie nicht nur theoretisches Konzept bleiben kann, sondern einer täglichen Praxis bedarf. Um Kollektivgründungen zu vereinfachen, Betriebsübernahmen denkbar zu machen und für Gründer*innen handhabbarer zu gestalten, hat Arbeitsrechtsanwalt und Mitgründer eines Reinigungskollektivs, Rupay Dahm einen Praxisleitfaden veröffentlicht.
Betriebe demokratisieren
Mit dem Buch »Selbstbestimmt arbeiten, Betriebe demokratisieren. Ein Praxisleitfaden für selbstorganisierte Unternehmen« gibt es auf insgesamt 545 Seiten viel Wissens- und Lesenswertes zu kollektiven Betrieben. Erschienen ist es bereits 2024 im Oekom-Verlag. Dabei nimmt Dahm nicht nur Deutschland in den Blick. Er widmet sich ebenso Beispielen aus anderen europäischen Ländern. Mit den insgesamt 38 Kapiteln ist das Buch gut strukturiert und kann sowohl als Nachschlagewerk genutzt als auch von Anfang bis Ende gelesen werden. Mit vielen praktischen Beispielen, Fragelisten und Merksätzen ist es Kollektivgründerinnen zur Orientierung nur zu empfehlen.
Was man vergebens sucht, sind Businesspläne. Der Fokus liegt auf demokratischen sowie Gruppenfindungsprozessen. Aus eigener Beratungspraxis bringt Dahm einen tiefen Einblick in die Bedarfe der Gründer*innen ein. Die Befürchtungen vieler Gründer*innen hinsichtlich fehlender Sicherheiten kommen ihm als Anwalt insofern entgegen, als diese Bedenken oft zu Fragen der Rechtsform geäußert werden. Insgesamt zwölf Kapitel widmet er entsprechend diesem Thema. Es gibt keine Rechtsform im deutschen Recht für Kollektive. Die Rechtsform, die dem am nächsten kommt, ist die Genossenschaft, aber auch diese ist nicht für jedes Kollektiv geeignet.
Befindlichkeiten
Größtes Manko, zugleich die größte Stärke des Buches ist die starke Orientierung an den Herangehensweisen der Gründer*innen. Von politischen Überzeugungen bis hin zur Alltagsgestaltung soll alles im Kollektiv berücksichtigt werden. Dahm empfiehlt daher, sich im Rahmen der Gründung mit persönlichen Bedürfnislagen auseinanderzusetzen, wie es in der deutschen Kollektivszene üblich ist und insgesamt dem Zeitgeist innerlinker Debatte entspricht. Was Dahm dabei allerdings hervorragend gelingt, ist die Kontextualisierung zu betrieblichen Prozessen demokratischer Gestaltung, zu Fragen des Eigentums, der Entscheidungsfindung oder Personalführung, wenn man ohne Chef*in arbeiten möchte. Es gelingt ihm, Gründer*innen bei diesem Schritt mit seinem Buch zu unterstützen und sie auf ihrem Weg zu begleiten.
Einen Kollektivbetrieb zu gründen, ist an vielerlei politische Ansprüche gekoppelt, die schnell dazu führen können, Gründungsprozesse zu überfrachten. Damit setzt sich der Anwalt und Kollektivgründer bereits zu Beginn des Buches auseinander. Im Weiteren beschäftigt er sich zudem mit der Frage, wie es in Unternehmen läuft, die Chefs haben. Deren Organisationsform aus hierarchischen Strukturen besteht und in denen über einen Betriebsrat hinaus nur wenig an Demokratie gedacht wird. Immer wieder kontextualisiert Dahm bestehende Vorstellungen und Arbeitsweisen. In diesem Zusammenhang nimmt er hierarchische Arbeitsstrukturen und ihren allgemeingültigen Anspruch als unumstößlich erfolgreich in den Blick und zeigt vielfältige Probleme auf, die aus dieser herkömmlichen Organisationsweise von Unternehmen entstehen können.
Den Kapitalismus stürzen
Bei allen Einzelschritten und Überlegungen, die im Gründungsprozess und bei der Betriebsführung zu berücksichtigen sind, verliert Dahm dennoch den gesamtgesellschaftlichen Kontext nicht aus dem Blick. Worum es am Ende mit jeder einzelnen demokratischen Unternehmensgründung geht, ist, den Kapitalismus abzuschaffen. Es geht darum, demokratische Praxen im betrieblichen Alltag zu entwickeln, die die Menschen gesellschaftlich tragen. Dahm schreibt dazu: »Demokratische Betriebe bewirken dabei nicht nur eine gerechtere Lohnverteilung, die Ungleichheiten entgegenwirkt. Sie packen die Ungerechtigkeiten an der Wurzel. Weil Eigentums- und Kapitalstruktur das System des Kapitalismus auf betrieblicher Ebene darstellen, lässt sich die Macht des Kapitals nur durch veränderte Eigentumsverhältnisse, etwa die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln und die Kapitalneutralisierung demokratisieren.«
Rupay Dahm: »Selbstbestimmt arbeiten, Betriebe demokratisieren. Ein Praxisleitfaden für selbstorganisierte Unternehmen«, Oekom-Verlag 2024, 545 S., br., 42 €.
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