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»Anthropolis«: Zurück auf null

Roland Schimmelpfennigs mehrteiliger Bühnenzyklus »Anthropolis« liegt als Taschenbuch vor

Roland Schimmelpfennigs Antikeaneignung gleicht einer theatral-archäologischen Grabung – wie im hier in Szene gesetzten »Anthropolis«-Prolog am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
Roland Schimmelpfennigs Antikeaneignung gleicht einer theatral-archäologischen Grabung – wie im hier in Szene gesetzten »Anthropolis«-Prolog am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

Als die Theater während der Lockdowns der letzten Jahre den Spielbetrieb reduziert, ins Internet verlegt oder ganz eingestellt hatten, raunten bereits einige Kulturpessimisten: Ob das Publikum wohl jemals zurückkommt? Es kommt, so scheint es.

Und trotzdem hat es das Drama schwer in diesem jungen Jahrtausend. Filme und Serien, Lebens- und Augenzeugenberichte, sogenannte Projektentwicklungen und entliterarisierte Spektakel finden ihren Weg auf die Bühne. Zeitgenössische Stücke lassen sich aber kaum durchsetzen.

Lange vorbei sind die Zeiten, als Gegenwartsdramatik nicht nur die Zuschauersäle füllte, sondern darüberhinaus auch gelesen wurde. Wirklich? Der viel gespielte Theaterautor Roland Schimmelpfennig ist auch in dieser Hinsicht eine Ausnahmegestalt.

Mit Karin Beier hat er eine der derzeit aufregendsten Regisseure, mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg eine Bühne von kaum vergleichlicher Größe und einigem Renommee gewonnen, um seinen jüngsten Streich in Szene zu setzen. Mit »Anthropolis« hat Schimmelpfennig einen Antikenzyklus verfasst, der das ganze Können dieses Autors zeigt und fünf Theaterabende ergibt, von denen der zweite Teil dieser Tage beim Berliner Theatertreffen zu sehen ist.

Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste und Antigone – so heißen die fünf Teile des groß angelegten Textes. Und sie weisen gut zweitausend Jahre in die Vergangenheit, zurück zur Stunde null des europäischen Theaters. Aber, das zeigt uns die Lektüre der Klassiker und das zeigt uns auch Schimmelpfennig, die alten Mythen der Griechen behandeln nicht die Probleme der grauen Vorzeit, sondern die des modernen Menschen.

Nicht ohne Grund lautet die Überschrift »Anthropolis«. Der Mensch und die Stadt heißen die übergroßen Themen dieser Dramatik. Man könnte auch sagen: Es geht um den immer höchst dramatischen Versuch des menschlichen Zusammenlebens.

Was für Geschichten die Griechen für uns bereithalten! Blinde Herrscher, menschlicher Übereifer, göttliches Streben bei fehlender Größe der Menschen, das Sexuelle als ewiger Motor, Kampf und Liebe in der Familie begegnen uns hier.

Warum aber zu Schimmelpfennig greifen, wenn sich auch der Homer aus dem Bücherregal ziehen lässt, der ohnehin etwas abgestaubt gehört? Weil er eine eigene, durchaus lesenswerte Sprache findet für Geschichten, die oft schon erzählt wurden und weiter erzählt gehören.

Es ist der bekannte Schimmelpfennig-Sound: Die Sätze sind klar und präzise, der Autor scheut die Wiederholung nicht. Und was sich im Dialog nicht sagen lässt, was von anderer szenischer Natur ist, das fügt sich trotzdem in die Figurenrede ein, weil hier eine erweiterte Vorstellung eines erzählenden Theaters regiert. Dabei macht es sich Schimmelpfennig nicht einfach, sondern er sucht die den Stoffen gemäße Form. Er überschreibt die Dramen der antiken Klassiker neu, erfindet neue, zugespitzte Dialoge, reanimiert den Chor und schafft eine zeitlose Literatur zwischen sprachlicher Aktualisierung und entrückter Mythologie.

Dennoch: Gott ist tot, lehrt uns Nietzsche. Und sind jene Götter, von denen die alten Griechen schrieben, nicht schon allzu lange verwest? Sprechen sie noch zu uns? Zunächst einmal: »Anthropolis« geht es vor allem um den Menschen. Und die Götter herrschen noch, sie sind das tatsächliche oder das imaginierte Schicksal, sie sind das Unabwendbare, sie sind die Grenzen, an die die Menschen gelangen. Und wer wollte, gerade heute, bestreiten, dass da Grenzen sind? Das von den Menschen selbst organisierte Zusammenleben, das wir als Gesellschaft betrachten, ist ein trauriges Experiment, das auch immer wieder am menschlichen Versagen selbst endgültig zu scheitern droht.

Sich mit Schimmelpfennig den menschlichen Tragödien zu nähern, von denen man eine Zeit lang annahm, sie seien ad acta gelegt oder unverständlich im dauerironischen Bewusstseinsstrom im Spätestkapitalismus, macht allerdings nicht zuallererst betroffen. Man ahnt, dass solche theatral-archäologischen Grabungen zu einem Bild beitragen werden, das klarer sehen lässt.

»Erkenntnis und Einsicht / sind der Anfang allen Glücks«, ruft Schimmelpfennigs Chor uns zu.

Roland Schimmelpfennig: Anthropolis. Ungeheuer Stadt Theben. Fischer Taschenbuch, 512 S., br., 22 €.

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