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20 Jahre NSU-Anschlag: Mahnungen in Köln
Bundespräsident spricht auf Gedenkveranstaltung von Staatsversagen bei Verfolgung von Rechtsterrorismus
Es war bereits die achte von 13 Taten, zu denen sich im November 2011 nach der Tötung zweier Protagonisten der »Nationalsozialistische Untergrund« bekannte: Am 9. Juni 2004 explodierte in der belebten, von türkischen Geschäften geprägten Kölner Keupstraße eine Bombe, in der sich mehr als 800 Zimmermannsnägel befanden. 22 Menschen wurden verletzt, vier von ihnen schwer. Ein Friseursalon wurde vollständig verwüstet, mehrere Ladenlokale und zahlreiche parkende Autos wurden erheblich beschädigt.
Wie bei allen NSU-Verbrechen wurde auch in Köln eine neofaschistisch motivierte Tat ausgeschlossen, Opfer und ihre Angehörigen sogar verdächtigt. Ohne die Selbstenttarnung des NSU wären die Täter nie ermittelt worden.
Am Sonntag nannte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Gedenkveranstaltung in der Keupstraße im Stadtteil Mülheim zum 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße die »Fehler« der Sicherheitsbehörden »beschämend«. Mit dem Wissen von heute sei klar, dass schon in den 1990er Jahren der Staat den Rechtsextremismus hätte systematischer beobachten und entschlossener bekämpfen müssen, sagte Steinmeier.
Der Bundespräsident zeichnete die Ereignisse des 9. Juni 20024 und der darauffolgenden Wochen, Monate und Jahre nach. Für die Opfer sei kurz nach der Tat das gekommen, was manche von ihnen »die zweite Bombe nennen«: die »Erfahrung, zunächst nicht als Opfer wahrgenommen zu werden, sondern stattdessen als Verdächtige zu gelten«. Die Betroffenen seien »verhört, durchsucht, manche über Jahre unter Druck gesetzt« worden.
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Die Veranstaltung im Rahmen des Gedenk- und Kulturfestivals unter dem Motto »Birlikte – Zusammenhalten« in der Keupstraße begann mit Verzögerung. Ein Sprengstoff-Spürhund hatte bei einem Hydranten angeschlagen, daher zog die Polizei Entschärfer hinzu. Diese hätten nach Überprüfung der Stelle Entwarnung gegeben.
Steinmeier befand derweil auch, im späteren Umgang mit dem staatlichen Versagens bei der Aufklärung der NSU-Terrorserie zeige sich »eine Stärke, die allein die Demokratie besitzt: Als einzige Staatsform ist sie in der Lage, Fehler aufzuarbeiten«. Über Jahre seien die NSU-Taten vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen des Bundestages und mehrerer Bundesländer »akribisch Spuren zusammengetragen« worden. Dabei seien gleichwohl »quälende Fragen offen geblieben«, auf die es »vielleicht nie eine Antwort« geben werde.
»Aber das Ziel aller Aufarbeitung bleibt doch klar: Wir wollen und können es in Zukunft besser machen«, erklärte Steinmeier. Und man mache es längst besser, behauptete der Bundespräsident. Einerseits stelle »der Staat sich wehrhaft gegen Extremisten«. Andererseits seien Hunderttausende Bürger aktiv geworden und hätten auf zahlreichen Demonstrationen »für ein friedliches, demokratisches Deutschland« gestritten, »in dem jeder gleich an Rechten und Würde ist«. Es komme darauf an, Gewalt zu ächten, »ganz gleich, aus welchen Motiven sie sich speist: links- oder rechtsextremistisch oder aus religiösem Fanatismus«.
Steinmeier nahm zusammen mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) an der Gedenkveranstaltung teil. Wüst hatte Betroffene des Nagelbombenanschlags in einem zuvor im »Kölner Stadtanzeiger« und in der türkischen Zeitung »Hürriyet« veröffentlichten Gastbeitrags um Verzeihung gebeten. Er schrieb unter anderem: »Der Staat, dessen vorderste Aufgabe es ist, die Menschen zu schützen, muss eingestehen, dass er in der Keupstraße an diesem Anspruch gescheitert ist. Er hat die Menschen nicht geschützt. Er hat sie weder vor körperlichen und seelischen Schäden noch vor falschen Verdächtigungen bewahrt.« Er bitte daher »alle, denen so lange nicht geglaubt wurde und die fälschlicherweise selbst ins Visier der Ermittlungen gerieten, obwohl sie Opfer waren, um Entschuldigung«.
Die Anwohner der Keupstraße hätten, so Wüst, »nicht nur den Schock des Anschlags und die Angst um das eigene Leben erfahren müssen, sondern auch Vorverurteilung und Diffamierung«. Im Laufe der Ermittlungen seien aus Opfern zeitweise Tatverdächtige gemacht worden. NRW habe aus den Fehlern gelernt. Polizei und Justiz spiegelten »heute selbst die gesellschaftliche Vielfalt unseres Landes stärker wider«.
Ein Festival wie am Sonntag hatte zuletzt am zehnten Jahrestag des Anschlags stattgefunden. Zehntausende kamen damals, um des Anschlags zu gedenken und über Rassismus zu diskutieren, aber auch, um Toleranz und Offenheit zu feiern. Veranstalter war damals und am Sonntag die Interessengemeinschaft Keupstraße, in der sich nach dem Attentat ortsansässige Geschäftsleute zusammengeschlossen haben.
Meral Sahin, Vorsitzende der Interessengemeinschaft, sagt indes auch, in den Jahren nach dem Anschlag hätten die Anwohner der Straße auch gelernt, »mit dem eigenen Rassismus umzugehen«. Sie meint damit »die kleinen feinen Ausgrenzungen im Alltag«, etwa gegenüber Nachbarn, die aus einer anderen Region in der Türkei stammen. Heute gebe es ein viel besseres Miteinander.
Derweil gibt es das bereits vor zehn Jahren von dem Künstler Ulf Aminde entworfenen Mahnmal, mit dem an den Anschlag in der Keupstraße erinnert werden soll, noch immer nicht. 2016 wurde sein Entwurf von einer 20-köpfigen Jury ausgewählt. Die Stadt Köln sah sich bislang außerstande, den von den Initiatoren des komplexen Gedenkortes ausgewählten Platz am Eingang zur Keupstraße zu erwerben und bereitszustellen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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