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Frankreich: Niemand braucht eine Reformlinke
Olivier David hat den Sieg der Nouveau Front Populaire hautnah miterlebt – seine Eindrücke aus Nantes
Habe ich nach der Europawahl noch gesagt, als politischer Kolumnist könne man dankbar für schlechte Zeiten sein, denn dann gebe es etwas zu schreiben, so stimmt das natürlich auch umgekehrt: Die guten Zeiten sind mindestens so beachtenswert. Es gibt schlechtere Orte und Zeiten, als – so wie ich es gemacht habe – ins Nachbarland zu gehen, um sich endlich die französische Sprache draufzuschaffen.
Ich war also am Sonntagabend in Nantes unterwegs, in der Stadt, die für die kommenden drei Monate eine Art zu Hause sein soll. Ich ging in eine Bar, es war zufälligerweise die Bar, in der der Kandidat des frisch für die Wahl zusammengeklöppelten linken Bündnisses Nouveau Front Populaire seinen Wahlsieg über den Kandidaten von Macron feierte.
Das darf nicht unterschätzt werden, denn uns miesepetrigen deutschen Linken ist das Feiern abhandengekommen. Man sah Freudentränen, unverhofftes Erstaunen, nennen wir es freudigen Unglauben ob die Ungeheuerlichkeit, sich als Linke das Siegen nicht zu verbieten.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Man sah die Notwendigkeit einer gebeutelten Linken, feiern zu dürfen. Und bei aller legitimen Vorsicht, wie sie zum Beispiel der nd-Kollege Raul Zelik auf der Plattform X formuliert, wenn er schreibt, dass Sozialdemokraten und Grüne es gar nicht erwarten könnten, das linke Bündnis aufzukündigen, um sich Macron anzudienen, so dürfen wir nicht die Notwendigkeit, einen Sieg zu feiern, in Abrede stellen. Es kommen andere Zeiten, in denen es weniger zu feiern gibt.
Anschließend ging es auf eine sich spontan formierende Demonstration und auch hier war die Freude deutlich spürbar. Eine Fotostrecke der Zeitung »Le Monde« zeigt ähnliche Bilder aus Paris, so wie man sie in Nantes gesehen hat: Tränen, Umarmungen, Aufatmen. Vielleicht 3000 Leute, vor allem jüngere, nahmen sich in Nantes die Straße. Für einen Abend war der Faschismus aufgehalten und Zeuge dessen zu sein, ersetzt womöglich ein Dutzend Therapiestunden. Denn es gibt nichts Wichtigeres für die Psychohygiene, als die Wirkmächtigkeit einer Bewegung zu spüren, die nach Jahren der Niederlagen gewinnt.
Lesen Sie zum Thema den exklusiv auf Deutsch bei uns erschienenen Beitrag des französischen Philosophen Étienne Balibar – Teil 1 hier und Teil 2 hier.
Kurz: Es war ein Klassentreffen, das sich am Sonntagabend in Nantes, in Avignon, Marseille, Paris und Bordeaux formierte. Alle Menschen, die Geisel des faschistischen Rassemblement National sein würden, waren auf der Straße: eine Gruppe anarchistischer Menschen mit Behinderung, Migranten aus der Palästina-Bewegung, Extinction Rebellion, die kommunistische Gewerkschaft CGT, Fridays for Future, Schüler*innen, einige Vermummte.
Vielleicht ist es das, worauf wir uns besinnen können, wenn wir auch in Deutschland siegreich sein wollen: nach Gemeinsamkeiten zu suchen statt nach Differenzen. Das heißt nicht, dass Kämpfe um den richtigen Weg innerhalb der Linken nicht mit harten Bandagen geführt werden sollen. Denn niemand braucht eine Linke der Reformer*innen. Es bedeutet, strategisch nach Bündnissen zu suchen und an Mehrheiten zu arbeiten, in denen eine den Antagonismus zu den Herrschenden suchende Linke im Zentrum steht. Gehen wir es an!
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