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»Das Lied des Propheten«: Versuch radikaler Empathie
Im Booker Prize-prämierten Roman »Das Lied des Propheten« imaginiert Paul Lynch eine faschistische Diktatur in Irland
Wie würde eine rechte, neofaschistische Machtübernahme in einem westeuropäischen Land aussehen? Und wie viele demokratische Grundrechte könnten dann plötzlich abgebaut werden? Diese Fragen stellen sich angesichts zahlreicher rechter Wahlerfolge immer mehr Menschen. Für Irland hat das der 47-jährige Paul Lynch in seinem Roman »Das Lied des Propheten« fiktional durchgespielt. Und dieses Buch, das letztes Jahr mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde, geht wirklich unter die Haut. Dabei beginnt alles ganz alltäglich und harmlos. Als abends jemand an die Haustür der Familie Stack in Dublin klopft, ahnt Ehefrau Eilish erstmal nichts Böses. Zwei Polizeibeamte stehen vor der Tür und wollen mit ihrem Mann sprechen, der aber nicht zuhause ist. Sie sind höflich, er solle sich bei ihnen melden, dann gehen sie wieder. In diesem Moment beschleicht Eilish bereits ein eigenartiges Gefühl. Und das ist der Vorbote für eine Tragödie, die von da an ihren Lauf nimmt, mit einer kaum vorstellbaren Eskalation. Denn Ehemann Larry Stack, Vizepräsident der irischen Lehrergewerkschaft, wird kurze Zeit später bei einer Demonstration verhaftet und kehrt nicht mehr nach Hause zurück. »Das Lied des Propheten« erzählt am Familienalltag der linksliberalen, kleinbürgerlichen Stacks entlang von einer faschistischen Machtübernahme in der nahen Zukunft, die schließlich sogar in einen Bürgerkrieg mündet.
Nach dem Wahlsieg einer rechten Partei werden mittels Notstandsverordnung Bürgerrechte eingeschränkt, eine neue Polizeitruppe namens Garda National Services Bureau (GNSB) unterdrückt jegliche Kritik, alle 16-Jährigen werden zum Militärdienst eingezogen und bald gibt es auch eine nächtliche Ausgangssperre. Über den Verbleib des Vaters, der wahrscheinlich in einem Internierungslager steckt, weiß keiner etwas Genaues. Sohn Mark soll eingezogen werden und taucht unter, während die Mutter sich um ihre anderen drei Kinder kümmert und nebenbei ihren dement werdenden Vater betreut. Das politische Ereignis, das das Leben der Familie und auch aller anderen Menschen im Lauf der Zeit auf den Kopf stellt, wird in diesem Roman mit dem ganz banalen Alltag verknüpft. Es dauert eine ganze Zeit, bis klar wird, wie einschneidend die Entwicklungen sind. Mehr als ein paar Wochen kann das nicht gehen, sagt sich auch Ehemann Larry zuerst. Erst als der weg ist und nicht mehr wiederkommt, wird der Familie klar, wie ernst alles ist. Tochter Molly hängt im Garten für jeden Tag, den ihr Vater weg ist, ein weißes Band an einen Baum, bis der voller Bänder hängt, sie damit aufhört und sich immer mehr in sich selbst zurückzieht. Eilishs Versuche, bei der Polizei etwas über den Verbleib ihres Mannes zu erfahren, scheitern. Und auch an ihrem Arbeitsplatz weht plötzlich ein neuer Wind. Mehr und mehr Kollegen verschwinden plötzlich. Sind sie entlassen worden? Oder aus Irland geflohen?
»Das Lied des Propheten« kommt im Text ohne Absatzumbrüche aus, als würde diese Geschichte erzählt werden, ohne Atem holen zu können. Und genauso atemlos klaustrophobisch und unter einer nicht abreißenden Spannung steht auch Eilish im Zentrum dieser Geschichte. Paul Lynch schildert kleinteilig am Alltag ausgerichtet, wie das bisherige Leben der Stacks in Dublin erodiert. Die Lehrerin der Kinder ist plötzlich nicht mehr da und wird durch eine neue ersetzt. Immer mehr Menschen tragen Anstecker der neuen Regierungspartei »National Alliance Party«. Die Stacks werden immer weiter an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und stigmatisiert. Als die Regierung die Namen und Adressen fahnenflüchtiger Jugendlicher veröffentlicht, werden die Stacks wie Hunderte andere Familien Ziel eines nächtlichen pogromartigen Übergriffs, bei dem ihr Auto zerstört, die Fassade des Hauses beschmiert wird und die Polizei einfach wegschaut. Das europäische Ausland legt angesichts der Entwicklungen in Irland Protestnoten ein, das Land isoliert sich dadurch politisch und wirtschaftlich, Betriebe schließen, Arbeitslosigkeit ist die Folge. Auch Eilish verliert ihren Job als Biotech-Managerin. Was soll sie tun? Nach Kanada fliehen, wo ihre Schwester lebt? Das kann sie nicht, solange sie sich um den dementen Vater kümmern muss und außerdem ihr Mann oder ihr älterer Sohn plötzlich doch nach Hause kommen könnten. Die Hoffnung stirbt eben zuletzt.
Dabei regt sich auch Widerstand, aber Massenproteste werden brachial niedergeschlagen. Bald bilden sich rebellische Milizen und schließlich kommt es sogar zu einem Bürgerkrieg, in dessen Verlauf die Stacks mitten in der Frontlinie stehen und ihr Wohnviertel bombardiert wird. An Scharfschützen vorbei bringt Eilish ihren verletzten Sohn ins Krankenhaus. Paul Lynch dreht die Eskalationsschraube dieser Geschichte bis zum Äußersten. Jene Mitglieder der Familie, die diesen Horror überleben, begeben sich schließlich auf die Flucht und überqueren als illegale Geflüchtete in einem Schlauchboot das Meer nach England. Paul Lynch schrieb seinen Roman unter dem Eindruck einer immer stärker werdenden Rechten, die global mobilmacht, sowie des Bürgerkrieges in Syrien. Dabei geht es in seinem Buch, das er selbst als »Versuch radikaler Empathie« bezeichnet hat, darum, dem Leser das Schicksal von politischer Unterdrückung, Krieg und Flucht nachvollziehbar zu machen. Lynch verzichtet auf eine genaue Beschreibung der politischen Rahmenbedingungen dieses Rechtsrucks, was ihm auch schon Kritik einbrachte. Durch diesen Kunstgriff gelingt es ihm aber, diese Geschichte für den Leser unmittelbar erlebbar zu machen. Insofern wird dieser Roman zum Ende hin immer verstörender, auch wenn er seinen Figuren im letzten Absatz so etwas wie Hoffnung fühlen lässt.
Paul Lynch: Das Lied des Propheten. Klett-Cotta, 320 S., geb., 26 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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