Wir brauchen eine politische Wende

Wolfgang Berghofer gelingt ein polemischer Rundumschlag, konkret und überzeugend

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Wolfgang Berghofer, ehemaliger Oberbürgermeister von Dresden, ist beunruhigt über die deutschen Verhältnisse: »So kann es nicht weitergehen.«
Wolfgang Berghofer, ehemaliger Oberbürgermeister von Dresden, ist beunruhigt über die deutschen Verhältnisse: »So kann es nicht weitergehen.«

Einen markigen Titel hat Wolfgang Berghofer für sein neues Buch gewählt: »Deutschland braucht Veränderung«. Wer würde ihm nicht zustimmen wollen? Der Untertitel indes weckt Fragen: »Machen statt meckern«. Machen – ja, wie denn?

»Unzufriedenheit begleitet mich, solange ich denken kann … Überall war Stammtisch. Im Parteilehrjahr wie in der Jungen Gemeinde.« Recht hat der einstige FDJ-Funktionär und Dresdner Oberbürgermeister von 1986 bis 1990: Auch in der DDR haben wir uns die Köpfe heißgeredet, und alles lief an uns vorbei. Doch nun, nach der sogenannten Wende, bekamen viele einen Kapitalismus, wie sie ihn nicht erwartet hatten – und nicht wollten. Das ist das Problem.

»Der Kapitalismus, so wie er jetzt funktioniert, muss reformiert werden.« Viele Leser, besonders wohl im Osten, werden dem Autor da zustimmen. Manche würden sogar noch weitergehen: dass der Kapitalismus zu überwinden sei, weil es eine strukturell ungerechte Gesellschaftsordnung ist. Dabei aber enorm effizient.

Dagegen konnte der sozialistische Versuch nicht mithalten, allein schon, was die Produktivkraftentwicklung betrifft. »Wenn diese von den Produktionsverhältnissen gehemmt wird – wir haben ja alle gelernt, was da geschieht. Wobei alles natürlich noch viel differenzierter ist: Kalter Krieg, Hochrüstung, Schwäche der UdSSR …«

Wolfgang Berghofer arbeitet sich aber nicht an der Vergangenheit ab. Er stellt die Gegenwart zur Diskussion und fragt, »wie wir kollektiv und konstruktiv aus diesem Schlamassel herauskommen könnten«.

Tatsächlich müssen wir ja vieles mit uns geschehen lassen, nachdem wir unsere Kreuzchen auf dem Wahlzettel gesetzt haben. In jedem Falle kaufen wir die Katze im Sack, wie das Sprichwort sagt. Wie er sich eine Regierung vorstellt, die ganz und gar dem eigenen Volke verpflichtet wäre, würde ich Wolfgang Berghofer fragen, wenn wir uns zum öffentlichen Gespräch träfen. Es ist ja wirklich seine Stärke, über das Gegebene hinauszudenken und dabei auch praktisch zu werden. Faktenreich und pointiert vermag er zu argumentieren, nicht ohne Emotion, in kraftvoller Sprache.

Was mich freute, war, wie er sich Holger Friedrich an die Seite stellt, dem Verleger der »Berliner Zeitung«, der das »Manifest für Frieden«, initiiert von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, mit unterzeichnete, »weil auch er das Morden und die Zerstörung in der Ukraine nicht mit weiteren Waffenlieferungen verlängern wollte«. Auf welchen Gegenwind aus anderen Zeitungen er dabei traf, ist polemisch zu vermerken – und andererseits auch nicht verwunderlich, wenn man zu geopolitischem Denken in der Lage ist.

Wolfgang Berghofer durchschaut weltpolitische Zusammenhänge in dieser gefährlichen Umbruchphase, da eine neue Weltordnung im Entstehen ist. China auf dem Vormarsch und die USA im Niedergang. »Kamen nach dem Zweiten Weltkrieg etwa sechzig Prozent der globalen Wirtschaftsleistungen aus den USA, waren es 2020 nur noch sechzehn. 2021 betrug der Anteil Chinas an den weltweiten Exporten bereits fünfzehn Prozent, jener der USA keine acht Prozent.« Und Europa – die Spatzen pfeifen’s von den Dächern – schadet sich in Vasallentreue zu den USA nicht nur wirtschaftlich, sondern läuft auch Gefahr, in einen Krieg hineingezogen zu werden.

Dabei hätte der Ukraine-Krieg beendet werden können, schon kurz nachdem er begann. Aber die USA und Großbritannien haben das verhindert. Das sagt der Autor nicht ins Blaue hinein, das kann er beweisen. Wie er überhaupt mit vielen, teils nicht allgemein bekannten Fakten operiert. Ein Gewinn der Lektüre ist zudem, wie sie von der Gegenwart zugleich in die Tiefen der Geschichte führt. Wer weiß denn heute zum Beispiel noch, was der ukrainische »Brotfrieden« 1917/18 bedeutete?

»Systeme zerbrechen immer von innen heraus, nämlich wenn sie an ihre Grenzen stoßen.« Rigorose Kritik an der AfD und ihrem »Verführungspersonal«. Das macht sich den »Unmut des Volkes über die Zustände im Land« zunutze, wenn »die Marktwirtschaft ihre sozialen Elemente abstreift, weil die Kassen leer sind und ›unten‹ immer weniger verteilt werden kann, weil die ›oben‹ den Hals nicht vollkriegen«. Er indes ist überzeugt: »Wohlstand für alle ist machbar, wenn bestimmte heilige Kühe geschlachtet werden.«

»Alles auf den Prüfstand. Alles!« Bücher, die dermaßen aufs Ganze gehen, sind nicht gerade häufig. »Wir brauchen eine politische Wende.« Aber wie soll die vonstattengehen? Es finden sich im Buch unglaublich viele pointiert kluge Äußerungen. Aus selbstbewusst ostdeutscher Sicht. Aber würde es automatisch mehr Vernunft im politischen Handeln geben, wenn mehr Ostdeutsche in Führungspositionen kämen?

Auf drei Seiten hat der Autor am Schluss ein politisches Programm zusammengefasst, vom ersten bis zum letzten Punkt vernünftig. Es spricht einem aus dem Herzen. Die wichtigste Aufgabe: »für den Frieden einzustehen« in einem Europa, das frei ist von »überseeischer Bevormundung«. Bessere Finanzierung von Bildung, Erziehung, Forschung und Lehre, Bürokratieabbau, ein gerechtes Steuersystem, Formen direkter Demokratie … Da will ich nicht miesepetrig fragen, wie das gehen soll, sondern mich erst einmal freuen, dass es jemand so ausgesprochen hat.

Wolfgang Berghofer: Deutschland braucht Veränderung. Machen statt meckern. Edition Ost, 221 S., br., 18 €. nd-Literatursalon mit Wolfgang Berghofer am 4. September, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin. 

Nach der sogenannten Wende bekamen viele einen Kapitalismus, wie sie ihn nicht erwartet hatten – und nicht wollten. Das ist das Problem.

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