Salzburger Festspiele: Mozartkugel, extravagant

Viel Geld hilft viel – das galt in diesem Jahr auch für zwei Opern auf den Salzburger Festspielen

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 10 Min.
In seiner Fassung von »La clemenza di Tito« lässt Robert Carsen auch mal selbstverständlich Frauen Frauen lieben.
In seiner Fassung von »La clemenza di Tito« lässt Robert Carsen auch mal selbstverständlich Frauen Frauen lieben.

100 Jahre nach dem nationalsozialistischen Bombenanschlag auf das Festspielhaus und nach einem antisemitischen Anschlag auf den Wohnsitz des jüdischen Festspieldirektors und -gründers Max Reinhardt tragen im Salzburger Festspielsommer 2024 immer noch mehr Straßen in Salzburg die Namen von Nationalsozialisten als die von Frauen. Allerdings hat sich zuletzt doch ein wenig was getan in der Barockstadt mit ihrem kapitalistischen Disneyland-Charme: Zwar folgte sie nicht der Empfehlung einer Historikerkommission, wenigstens jene 13 der 66 nach »NS-belasteten Personen« benannten Straßen umzubenennen, bei denen eine besonders »gravierende NS-Verstrickung« nachgewiesen werden konnte. Doch immerhin gibt es nun Zusatztafeln unter den Straßennamen – etwa beim Herbert-von-Karajan-Platz in unmittelbarer Nachbarschaft zum Festspielhaus. Dort ist jetzt unter anderem zu lesen: »Dr. h. c. Herbert von Karajan (1908–1989). In Salzburg geborener Dirigent, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Er trat 1933 der NSDAP bei und nutzte das NS-Regime für seine Karriere.« Und der ehemalige Makartsteg, eine beliebte Fußgängerbrücke über die Salzach, trägt seit 2021 den Namen des Salzburger Bürgers Marko Feingold, der vier KZs überlebte und in der Nachkriegszeit Tausenden Juden die Ausreise nach Palästina ermöglichte. Am Marko-Feingold-Steg ist während der Festspielzeit eine Ausstellung zu Feingold sowie zur Geschichte jüdischer Orte in Salzburg zu sehen. Und schließlich wird die Stiege auf den Mönchsberg demnächst nach der Musikerin Alma Rosé benannt werden. Die Geigerin war die Nichte von Gustav Mahler und veranstaltete zwischen 1934 und 1938 aus Protest gegen das NS-Regime Solidaritätskonzerte; 1944 wurde sie in Auschwitz ermordet.

Es hat sich also etwas getan in Salzburg, das seit dem Frühjahr von einer Koalition aus SPÖ, KPD und grüner Bürgerliste regiert wird. Ob das in irgendeiner Weise auf die Salzburger Festspiele abfärbt? Schwer zu sagen. Nach wie vor grüßen vor jeder Opern- und Konzertaufführung im Großen Festspielhaus die teils umstrittenen und problematischen Sponsoren Audi, Siemens, Kühne-Stiftung, BTW und Rolex. Und nach wie vor sind die Festspiele ein Tummelplatz für Schwerreiche, Reiche, A-, B- und C-Promis, für die Kultur-Bourgeoisie und Schickeria samt einschlägigen Adabeis – aber eben auch für viele Kultur- und Musikinteressierte aus aller Welt. Und die werden von Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser mit einer in weiten Teilen faszinierenden Melange von hochkarätigen Aufführungen inklusive mancher (vermeintlich) »schwerer« Brocken bestens bedient. Es ist nicht alles nur Mozartkugel in Salzburg.

Doch Mozart bleibt natürlich ein Kraftzentrum der Festspiele. Zwei seiner Opern haben aufs Wunderbarste deutlich gemacht, dass mit dem vielen Geld, das die Festspiele vereinnahmen, eben auch außerordentliche Aufführungen kreiert werden können, die andernorts so wohl nicht finanzierbar sein dürften.

Da ist zum einen »La clemenza di Tito« zu nennen. Regisseur Robert Carsen stellt in seiner Inszenierung dieser meist unterschätzten Oper aktuelle Fragen: Wie funktioniert Macht und der Umgang damit? Wie kann gut regiert werden? Und die Verlegung der Geschichte ins Heute bedeutet für Carsen, die Oper ausschließlich in den Korridoren und Sälen der Macht spielen zu lassen: im Senat, im Büro des Staatschefs oder in politischen Sitzungssälen.

Dort erleben wir Intrigen, Machtspiele und Kämpfe um den richtigen Weg – und wie schwierig es ist, das »Richtige« zu tun, wie der großartige Daniel Behle als Staatschef Tito Vespasiano gleich in seiner ersten, brillanten Arie kundtut. Zwar seien Wohltätigkeit und Freundschaft beim Regieren die einzig wichtigen Kriterien, aber boy, all die harte Arbeit, all die Sachzwänge … Die vertritt vor allem der politische Drahtzieher des Stücks, Titos Berater Publio. Er ist Protagonist einer älteren, von Carsen im Interview als »reaktionär« bezeichneten Denkweise. Die Haltung Titos als, sagen wir, liberaler Humanist funktioniert für Publio nur in einer idealen Welt – da sind wir wieder, ähnlich wie in Weinbergs »Idioten«, bei den Verhältnissen, die (angeblich) eine humanistische Regierungsweise nicht zulassen. In Publios Augen funktioniert diese »nur in einer idealen Welt – in der wir aber nicht leben« (Carsen), weswegen er zunehmend zur Überzeugung gelangt, dass Tito an der Spitze des Staates ersetzt werden muss.

Unmöglich, beim Aufruhr am Ende des ersten Akts mit dem Brandanschlag auf das (römische) Kapitol – wir hören hier eine geradezu »schwindelerregende, kühne Folge von verminderten Septakkorden« (Dirigent Gianluca Capuano) – und dem Mordversuch an Tito nicht an den Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar 2021 zu denken, und Carsen besteht ausdrücklich auf dieser Analogie. Eine signifikante Figur im Personaltableau der Oper ist die intrigante und smarte Vitellia, die stets sich selbst am nächsten ist und vornehmlich ihre eigenen Interessen, ihren persönlichen Aufstieg im Sinn hat. Mal erteilt sie einen Mordauftrag an Tito, mal will sie ihn heiraten, um so der Macht nahezukommen. Im Gegensatz dazu steht Sesto (natürlich wunderbar: Cecilia Bartoli), die in Vitellia verliebt und mit Tito eng befreundet ist. Sestos Emotionen sind von Anfang bis Ende authentisch, ihre Verzweiflung, den Mordversuch an Tito ausgeübt zu haben, wie ihre Reue geben Anlass zu bewegenden Arien. Und dann ist da noch Servilia, »eine unglaublich moderne junge Frau« (Carsen), die das sagt, was sie denkt, den Heiratsantrag des Herrschers deutlich ablehnt, weil sie ja Annio liebt – und das Duett »Ah perdona al primo affetto« Servilias (anmutig: Mélissa Petit) und Annios (Anna Tetruashvili) gehört zum Berührendsten, was Mozart in seinen Opern komponiert hat. Wieder einmal fällt auf, dass Mozart den »einfachen Leuten« in seinen Opern gerne eine besonders funkelnde Musik auf den Leib geschrieben hat – auch wenn die »sinnliche Anteilnahme« (Georg Knepler), die er seit »Idomeneo« seinen Bühnenfiguren zuteil werden ließ, natürlich nicht weniger Tito und dessen großmütig gewährter Verzeihung gilt. Der Akt der »Milde«, also der »clemenza«, steht eben im Zentrum dieses Werks. Es bestehen keine Zweifel daran, dass Mozart und Carsen wollen, dass wir Tito und seinen von Humanismus, Milde (Carsen erwähnt im Interview auch die Millionen von Migrant*innen, die nicht nur von Figuren wie Trump von Deportation bedroht werden) und Freundschaft geprägten Regierungsstil bewundern sollen.

Spannend, dass Carsen Sesto und Annio nicht als Hosenrollen behandelt, sondern genderfluid liest, also beide Partien ganz selbstverständlich als Frauen zeigt – so sind es eben auch mal Frauen, die Frauen lieben, und Vitellia ist entsprechend bereit, ihre körperlichen Reize sowohl gegenüber einem Mann als auch einer Frau auszuprobieren. So what?

Warum Carsen allerdings Tito, der seine Mildtätigkeit über das Gesetz stellt, am Ende von einem düsteren Mob töten lässt, womit die Bühne frei ist für Vitellias Selbstinthronisation, bleibt rätselhaft – man versteht den Pessimismus des Regisseurs anhand der Weltenläufe, aber Mozart hat für den Schluss nun mal einen Huldigungsmarsch auf Tito sowie eine Anrufung der Götter komponiert, auch wenn Titos letzte Worte (»Nehmt Götter, nehmt mein Leben, / Ich geb es freudig hin, / Wenn ich was heißer wünsche, / Als Rom beglückt zu sehn«) eventuell anders interpretiert werden könnten.

Wunderbar das in einsamen Höhen musizierende Ensemble Les Musiciens du Prince – Monaco unter der hervorragenden Leitung von Gianluca Capuano, dessen »Gedanken zur Musik und zur Interpretation« dieser Oper im Programmbuch Pflichtlektüre für alle Mozart-Interpret*innen und Freund*innen dieser Musik sein sollten.

Romeo Castelluccis »Don Giovanni«-Inszenierung ist, dem Stück entsprechend, düster und spielerisch zugleich.
Romeo Castelluccis »Don Giovanni«-Inszenierung ist, dem Stück entsprechend, düster und spielerisch zugleich.

Am Abend darauf dirigiert Teodor Currentzis, der bei der Aufführung von »La clemenza di Tito« im Publikum saß, eine weltbewegende Aufführung von »Don Giovanni«. Sie gehört sowohl musikalisch als auch von der Inszenierung her zum Besten, was in der Opernwelt zurzeit zu sehen ist. Natürlich hat das wesentlich mit dem Detailfanatiker und Turboanimateur Currentzis zu tun, der aus der ohnedies in allen Facetten von kompletter Düsternis bis Liebesseligkeit leuchtenden Partitur wirklich alles herausholt. Wie Julian Prégardien, der Salzburger Don Ottavio, im Interview mit dem »BR« sagt, ist Currentzis ein Dirigent, der tiefgründig am musikalischen Text arbeitet und eine »Unerbittlichkeit des musikalischen Ausdrucks« erzielt, den er »von allen teilnehmenden Musiker*innen erwartet und ermutigt und auch mit psychologischem Gespür herauskitzelt«. Ihm steht ein hervorragendes Ensemble zur Verfügung, eben das Utopia Orchestra und der Utopia Choir, verstärkt mit den Herren des Bachchors Salzburg, sowie beeindruckende Solist*innen: Neben Prégardien der extrem spielfreudige Davide Luciano in der Titelrolle, Federica Lombardi als dramatische Donna Elvira, die die Verwirrung und Aufgewühltheit ihrer Rolle beeindruckend ausgestaltet, Anna El-Khashem als sinnliche und gleichzeitig auf gesellschaftliche Emanzipation pochende Zerlina – vor allem aber die ungeheure Nadezhda Pavlova, die in ihrer stimmlichen Gestaltung der tragischen Heldin Donna Anna Maßstäbe setzt. Und schlicht genial, was Maria Shabashova in den Rezitativen und ihren Improvisationen da am Hammerklavier des Continuo treibt!

Die Inszenierung Romeo Castelluccis ist auf eine ganz in sich ruhende Art und Weise spektakulär. Im Don Giovanni existieren ja Tragödie und Komödie Seite an Seite. Vom ersten Takt an spürt man Dramatik und Todestrieb, alles läuft auf die finale Katastrophe hinaus. Aber gleichzeitig ist das Stück »giocoso«, eben spielerisch. Man denkt an den Religionsphilosophen Alan Watts und sein berühmtes Zitat: »Das Leben ist ein Spiel, dessen erste Spielregel lautet: Das ist kein Spiel. Das ist todernst.« Castellucci lässt zu Beginn einen Ziegenbock (ja, ein Symbol des Teufels …) über die Bühne laufen, später kommt Don Ottavio, der bei jedem Auftritt ein neues Fantasiekostüm trägt, mit einem Pudel zu Donna Anna (jaja, des Pudels Kern …), dann wuselt gar eine Ratte durch die Szenerie. Mal wird eine moderne Luxuskarosse von der Decke gelassen (in der 2021er-Inszenierung ließ er das Auto noch auf die Bühne krachen, was ein veritabler Schockmoment war; schade eigentlich, dass er jetzt auf diesen Effekt verzichtet, dabei ließen sich vor dem Festspielhaus doch jede Menge geeigneter SUVs oder Luxusschlitten finden), mal ein Kopiergerät, dann kracht plötzlich ein Flügel auf den Bühnenboden, und Don Giovanni klimpert auf den Tasten des zerstörten Instruments. Um Effekte ist Castellucci nie verlegen, aber sie werden nie bloß um ihrer selbst willen verwendet, sondern klug und oft geradezu philosophisch eingesetzt.

Vielleicht die wunderbarste Regie-Idee ist, den Frauen, also den Opfern Don Giovannis, ihre Subjektivität zurückzugeben und sie so ins Zentrum der Oper und unserer Gesellschaft zu stellen. Für den zweiten Akt hat das Team eine große Anzahl Salzburger Frauen eingeladen, die Bühne des Großen Festspielhauses ihrer Stadt zu besetzen. »Die Frauen kommen, um sich den eigenen Körper, eine Präsenz, eine Biografie zurückzuholen«, erklärt Castellucci. Die Rammstein-artige dumpfe, von seinem Diener vorgetragene Liste der von Don Giovanni »eroberten« Frauen verwandelt sich in eine Menge realer Gestalten, die von der Choreografin Cindy Van Acker in Bewegungsbahnen und unterschiedliche Konfigurationen im Bühnenraum entwickelt werden. Es ist berührend zu sehen, wie die Salzburger Frauen diesen Akt der Selbstermächtigung gestalten und das polare Schema von Don Giovanni als Jäger und den Frauen als Gejagten umkehren.

Am Ende werden Pompejische Körper auf die Bühne evoziert. So nimmt Castellucci das moralistische Finale des Librettos zurück, das ja sowieso eine bloße Behauptung ist. Don Giovanni bleibt ein Neinsager, der vor der Gesellschaft, vor allem aber vor sich selbst flieht, einer, der seinem Begehren verhaftet bleibt. Ein letztes »No« bricht aus ihm heraus, und so muss er verschwinden (zur Hölle fahren?). Mit ihm verschwindet für Castellucci »das Prinzip des Chaos, jene spaltende Energie, die zugleich eine Quelle von Dynamik ist«. Sobald diese Energie verschwindet, erstarrt alles, erstarren alle, für immer. Die zurückbleibenden Personen werden mitten in ihren Bewegungen versteinert, wie die im Jahr 79 n. Chr. in Pompeji verglühten und von der Lava begrabenen Menschen.

Der »Don Giovanni« der diesjährigen Salzburger Festspiele ist faszinierend, erschütternd und gleichzeitig ein sinnliches Vergnügen, also vollkommenes Mozart-Glück.

Die Salzburger Festspiele laufen noch bis zum 31. August. Tickets gibt es unter https://www.salzburgerfestspiele.at/

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