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China: Viele Medaillen, wenig gesellschaftliche Teilhabe
Die paralympische Dominanz fußt auf einer gesellschaftlichen Abschottung behinderter Menschen
Ein Gradmesser für Erfolg bei Paralympischen Spielen sind auch immer Medaillen. Auch deshalb zog Karl Quade als Chef de Mission vom deutschen Team auf der Abschlusspressekonferenz der Paralympics von Paris ein positives Fazit: »Wir haben in elf Sportarten Medaillen geholt, das sind drei mehr als in Tokio.« Man habe den Rückgang »bei der Gesamtzahl der Medaillen und bei den sogenannten Endkampfplätzen vier bis acht gestoppt.« Der von Julius Beucher als Ziel ausgegebene Platz zehn in der Nationenwertung wurde zwar knapp verpasst, aber auch der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes freute sich über einen »Aufwärtstrend«.
Nimmt man die Medaillen als Maßstab, dann ist China das mit Abstand erfolgreichste Land. Und das seit den Spielen 2004 in Athen. Auch bei den 17. Sommer-Paralympics in Paris dominiert die Volksrepublik: Ihre Sportlerinnen und Sportler gewannen fast doppelt so viele Medaillen wie das Team aus dem zweitplatzierten Großbritannien. Allein die chinesische Ausbeute bei Goldmedaillen ist fast doppelt so hoch wie Gesamtzahl der deutschen Medaillen.
Der Medaillenspiegel von Paris
Gold | Silber | Bronze | Gesamt | ||
1. | China | 94 | 76 | 50 | 220 |
2. | Großbritannien | 49 | 44 | 31 | 124 |
3. | USA | 36 | 42 | 27 | 105 |
4. | Niederlande | 27 | 17 | 12 | 56 |
5. | Brasilien | 25 | 26 | 38 | 89 |
6. | Italien | 24 | 15 | 32 | 71 |
7. | Ukraine | 22 | 28 | 32 | 82 |
8. | Frankreich | 19 | 28 | 28 | 75 |
9. | Australien | 18 | 17 | 28 | 63 |
10. | Japan | 14 | 10 | 17 | 41 |
11. | Deutschland | 10 | 14 | 25 | 49 |
Doch man könnte auch einen anderen Gradmesser an die Paralympics anlegen. Wie sehr wirkt sich der sportliche Erfolg auf den Alltag von Menschen mit Behinderungen aus? Auf ihre Sichtbarkeit, ihre Gesundheitsvorsorge, auf ihre Chancen in Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt. »Die Effekte der Paralympics auf die Gesellschaft in China sind sehr gering«, sagt der britische Wissenschaftler Stephen Hallett, der mit einer Sehbehinderung lange in China gelebt hat. »Die Paralympier sind eine Elite. Diese Gruppe steht nicht für Teilhabe, sondern eher für Abschottung.«
Jahrhundertelang galten Menschen mit Behinderungen in China als Belastung, auch aufgrund tief verwurzelter Traditionen. Im Konfuzianismus wurden gesunde Kinder als ideal angesehen, weil sie die Familienlinie fortschreiben und ältere Angehörige pflegen konnten. Im Buddhismus galt eine Behinderung mitunter als Strafe für ein früheres Leben. Vor allem auf dem Land wurden behinderte Menschen in China versteckt. Die lange nur wenigen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen stammten aus dem 19. Jahrhundert und waren von christlichen Missionaren gegründet worden.
»Die Effekte der Paralympics auf die Gesellschaft in China sind sehr gering.«
Stephen Hallett Britischer Wissenschaftler
Es musste schon eine einflussreiche Persönlichkeit sein, die dieses System herausfordert. 1988 gründete Deng Pufang den chinesischen Behindertenverband. Der Sohn des kommunistischen Parteiführers Deng Xiaoping war während der Kulturrevolution von Rotgardisten gefoltert und aus einem Fenster gestoßen worden. Seitdem war Deng querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Mit seinem Verband brachte Deng in den 90er Jahren Hunderte Sondereinrichtungen für behinderte Menschen auf den Weg: Schulen, Pflegeheime und Sportstätten.
»Dieser Verband war relativ verschlossen und wirkte eher wie ein staatliches Kontrollgremium«, sagt Hallett. »Menschen mit Behinderungen, die nicht im Parteiapparat vernetzt waren, konnten kaum Ideen einbringen.« Und so verfestigte sich die Abschottung von behinderten Menschen.
Anfang des Jahrtausends sah es nach einem Wandel aus. 2001 wurden die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele für 2008 nach Peking vergeben. In einem relativ offenen gesellschaftlichen Klima setzten sich Aktivisten und NGOs für die Rechte behinderter Menschen ein. Als einer der ersten Staaten ratifizierte die Volksrepublik die neue Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. In diesem Übereinkommen wurde ausdrücklich die Inklusion von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben, ihre gleichberechtigte Teilhabe.
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Im Sport würde das bedeuten, dass Schwimmhallen, Schulunterricht oder Trainerkurse für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen zugänglich sind. Aber erneut setzte China auf einen Sonderweg. In einem Vorort von Peking wurde das weltweit größte paralympische Trainingszentrum errichtet. Hunderte Spezialschulen und Krankenhäuser auf dem Land sollten Jugendliche mit frischen Amputationen an die lokalen Sportbüros melden. So wurden jährlich mehrere Tausend Menschen für paralympische Sportarten gesichtet. Bis heute. Und die Auswahl ist groß, in China leben rund 80 Millionen Menschen mit Behinderungen. »Die Sportler müssen monatelang in spartanischen Unterkünften leben«, sagt Hallett, der an der Universität Leeds forscht: »Wer sich nicht schnell genug entwickelt, wird wieder aussortiert.« Und selbst die vielen Medaillengewinner stehen nach dem Ende ihrer Laufbahnen oft vor dem Nichts.
Die Vereinten Nationen haben in China mehrfach angemahnt, dass neue Rampen, Leitsysteme oder rollstuhlgerechte Busse in Peking oder Schanghai nicht für ein zeitgemäßes Inklusionskonzept ausreichen. Die Kommunistische Partei weist solche Hinweise als westliche Bevormundung zurück. Stattdessen deuten sie die paralympische Dominanz als Überlegenheit gegenüber den politischen Rivalen aus den USA und Europa. Und innenpolitisch vermarkten sie ihre Medaillengewinner als Symbolfiguren für den sozialen Staat.
Doch vieles ist Propaganda. Es ist richtig, dass seit den Paralympics 2008 in Peking zunehmend Menschen mit Behinderungen im chinesischen Fernsehen gezeigt werden. Behörden und Unternehmen haben Beschäftigungsquoten für behinderte Arbeitnehmer verabschiedet. Die Umsetzung aber läuft schleppend, 75 Prozent der Menschen mit Behinderungen leben weiterhin auf dem Land. Zudem müssen Familien ihre Angehörigen mit schweren Behinderungen oft selbst betreuen, weil das Gesundheitssystem darauf nicht ausgerichtet ist.
Seit nunmehr 20 Jahren überdeckt die chinesische Dominanz bei den Paralympics die Abschottung von behinderten Menschen in der Volksrepublik. Auch das Internationale Paralympische Komitee IPC und viele westliche Paralympier meiden eine kritische Debatte darüber. Schließlich würden sie damit auch die positive Inklusionserzählung ihrer Bewegung relativieren.
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