Der Flughafen in Kassel, an dem nichts fliegt

Kassel-Calden ist als Airport gescheitert, die Landesregierung hält trotzdem dran fest

  • Oliver Eberhardt, Calden
  • Lesedauer: 8 Min.
Nix los in Calden: Die einzige Chartergesellschaft Sundair streicht im Oktober die Flüge am Airport Kassel.
Nix los in Calden: Die einzige Chartergesellschaft Sundair streicht im Oktober die Flüge am Airport Kassel.

Der Bus 100 vom Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe in die kleine Gemeinde Calden ist rappelvoll. Koffer stapeln sich auf dem Gang. Die Stimmung ist ausgelassen. »Hochbetrieb am Kassel International Airport«, sagt der Busfahrer mit breitem nordhessischen Akzent, mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme. Draußen wird die Landschaft immer ländlicher, bis ein Dorf auftaucht, dass es so hundertfach in Hessen gibt. Aber eines ist hier anders als anderswo: Calden hat einen Flughafen.

»Landratspisten« werden solche Airports auch genannt: Verkehrsflughäfen abseits der Ballungsräume, entstanden aus einer Mischung aus politischer Ambition, verzweifeltem Ringen um die Zukunft und Lokalpatriotismus, die den Blick auf die Realität verstellt. Mehr als ein Dutzend der 37 Airports in Deutschland fallen in diese Kategorie. Es gibt sie unter anderem in Hahn im Hunsrück, in Weeze am Niederrhein, in Memmingen im Allgäu und in Calden bei Kassel. Alle sind sie vollwertige Verkehrsflughäfen mit eigener Feuerwehr, Betriebspflicht rund um die Uhr.

Oft gab es für die Entwicklung der regionalen Airports eine Notwendigkeit. Bei einigen existierte eine Militärbasis mit eigener Start- und Landbahn, die geschlossen wurde. Der damit verbundene Verlust ziviler Arbeitsplätze sollte kompensiert werden. Oder man hatte, wie in Calden, einen Landeplatz und wollte irgendwie Arbeitsplätze schaffen. »Möglichkeiten gibt es ja auf dem flachen Land nicht viele«, sagt Gerd Becker, der sich in den Neunzigerjahren in Hahn im Hunsrück kommunalpolitisch engagierte: »Und da dachten wir uns dann alle, dass die Leute doch fliegen wollen, dass Fracht umgeschlagen werden muss, dass so ein Flughafen eine Lösung sein könnte.« Die kritischen Stimmen habe man weggewischt.

So entstanden die Landratspisten. Einige haben sich einen Namen als Basis für Billigflieger gemacht oder als Umschlagplatz für den Online-Handel. Reibungslos ist eine solche Entwicklung aber fast nirgendwo verlaufen. So war »der Hahn«, wie der Flughafen im Hunsrück auch genannt wird, zeitweise insolvent und hat mehrere Eigentümerwechsel hinter sich. Und der Kassel Airport ist Gegenstand einer nun seit mehr als zehn Jahre andauernden Posse, bei der Aussagen über die Entwicklungsmöglichkeiten und die Realität oft Lichtjahre voneinander entfernt scheinen; bei der man sich oft fragt, ob das wirklich alles ernst gemeint ist und ein Unternehmen so geführt werden kann.

An der Bushaltestelle am Rathaus von Calden wartet die Steuerfachgehilfin Michaela Kuhlmann auf den Bus nach Kassel. Sie erzählt davon, wie schwer es ist, einen Kindergartenplatz zu finden, dass diese oder jene Straße mal gemacht werden müsste. In der Kommunalpolitik spreche man davon, die Gebühren und Grundsteuern anzuheben. Erst im vergangenen Jahr seien bereits die Kindergartengebühren und die Gewerbesteuern raufgesetzt worden. »Aber immerhin gehört uns zu drei Prozent ein internationaler Flughafen«, sagt sie spöttisch. In den Rathäusern rund um den Frankfurter Flughafen würde man bei einer solchen Nachricht die Sektkorken knallen lassen; aber dort schwimmt man ohnehin seit Jahrzehnten in Gewerbesteuergeld.

In Calden indes herrscht Katerstimmung. Denn drei Prozent Besitz am Kassel Airport, das bedeutet hier vor allem, drei Prozent der Verluste tragen zu müssen; bis 2018 waren es sogar sechs Prozent. Rund fünf Millionen Euro Verlust macht der Flughafen derzeit im Jahr; etwa 150 000 Euro muss Calden also zuschießen. Ansonsten mit im Boot: Stadt und Kreis Kassel mit je 14,5 Prozent, und das Land Hessen mit 68 Prozent.

Dass der 100er aus Kassel mal Passagiere am Airport auslädt, ist im Dorf eine Attraktion: Eine feste Fluglinie gibt es nicht. Frachtflieger machen einen Bogen um den Flughafen. In der Ferienzeit starten höchstens vier Chartermaschinen am Tag zu Urlaubszielen. Oft aber auch gar keine.

Doch in der Landeshauptstadt Wiesbaden trotzen die schwarz-roten Koalitionäre weiterhin dem lauten Ruf, Kassel zum Landeplatz zurückzustufen oder gleich ganz dichtzumachen. 271 Millionen Euro hatte das Land ab 2010 in den Bau des 2013 eröffneten neuen Flughafens gesteckt. 340 Millionen Euro seien bisher insgesamt hineingeflossen, haben die Grünen ausgerechnet. In der vergangenen Legislaturperiode hatten sie noch mit der CDU die Regierung gebildet. Da musste der grüne Verkehrsminister Tarek Al-Wazir den Flughafen schweren Herzens noch mittragen. Jetzt fordert man wieder die Schließung. Denn gerade hat die Firma Sundair ihren Rückzug aus Kassel bekanntgegeben; die einzige Chartergesellschaft, die regelmäßig von dort abhebt, streicht ab Oktober die Flüge.

Doch trotz des erkennbaren Misserfolgs heißt es im Koalitionsvertrag zwischen Christ- und Sozialdemokraten: »Der Flughafen Kassel-Calden ist ein wichtiges nordhessisches Infrastruktur-Projekt, dass wir weiterhin stärken wollen.« Er stelle »hinsichtlich der Ansiedlung von neuen Unternehmen« eine volkswirtschaftliche »Erfolgsgeschichte« dar.

Weder in Stadt oder Kreis Kassel noch in der Kommunalpolitik von Calden will sich jemand dazu äußern. Aus gutem Grund, erklärt ein Kommunalpolitiker der Grünen in einem Telefonat: »Alle wollen aus der Geschichte raus.« Niemand möchte die ohnehin schon schwierigen Gespräche noch mehr belasten. Die Situation ist verfahren: In Wiesbaden hält man nicht nur selbst am Flughafen fest; man will auch die drei anderen Anteilseigner nicht gehen lassen. Das gebe der Vertrag nicht her, heißt es dazu sehr knapp aus dem hessischen Wirtschaftsministerium, bevor man auf die 1100 Arbeitsplätze verweist, die der Kassel Airport geschaffen habe.

Also doch: eine Erfolgsgeschichte? Im vergangenen Jahr hat der Hessische Rundfunk bei 70 Unternehmen rund um den Flughafen angefragt, wie wichtig ihnen der Flughafen sei. Fazit: Die allermeisten nutzen den Flughafen so gut wie gar nicht. Wie sollten sie auch? Rund 26 500 Starts und Landungen gab es in Kassel im Jahr 2023; knapp 107 000 Passagiere wurden abgefertigt und sechs Tonnen Fracht verladen. Kein anderer Verkehrsflughafen hat ein derart schlechtes Verhältnis von Fracht und Passagieren zu den Flugbewegungen. Pro Passagier schießen die Steuerzahler 50 Euro zu; pro Flugzeug, das in Kassel landet, sind es 400 Euro. Die allermeisten davon: Flüge für Fallschirmspringer und Flugschulen; hinzu kommen Privatjets und eben die paar Urlaubsflüge.

Ein Blick in die Haushaltspläne der drei direkt betroffenen Anteilseigner verschafft Klarheit: Die Gewerbesteuerzahlungen der Unternehmen, die direkt vom Flughafen abhängig sind, wiegen die Verluste bei weitem nicht auf. Aber die Koalitionspartner in Wiesbaden haben sich etwas ausgedacht: Sie wollen laut Koalitionsvertrag einen Bahnanschluss bauen.

Wenn denn die Deutsche Bahn mitspielt. Ein Sprecher fragt erst mal zurück, ob das ernst gemeint sei, das sei doch »dieser Flughafen, an dem nichts fliegt«. Dann sagt er das, was auch die Lufthansa, KLM, Air France und sogar Ryanair sagen: Es gebe keinen Markt, keinen Bedarf. Von Kassel-Wilhelmshöhe sei man mit dem ICE in weniger als zwei Stunden in Frankfurt, in Paderborn, in Dortmund und mit ein bisschen mehr Zeitaufwand auch am Berliner Flughafen. Kassel ist ein extremes Beispiel dafür, was bei einem Flughafen alles schiefgehen kann.

Anders sieht es dagegen einige hundert Kilometer weiter westlich, in Weeze am Niederrhein, aus. Da scheint die Welt in Ordnung, der Flugplan ist voll. Der Airport dort ist bei preisbewussten Touristen aus den Niederlanden und dem Ruhrgebiet beliebt. Doch die Billigflieger, die sich hier niedergelassen haben, versuchen, die Kosten zu drücken, wo es nur geht – und das bedeutet auch: die Lohnkosten. Beim Jobcenter des Kreises Kleve beklagt man sich darüber, dass viele derjenigen, die am Flughafen beschäftigt sind, nur den Mindestlohn verdienen. Und das bedeutet auch: Dass sie mit Bürgergeld aufstocken müssen. »Das ist eine Subvention der anderen Art«, sagt Caroline Frank, eine Sachbearbeiterin des Jobcenters: »Der Flughafen hat nicht die Arbeitsplätze geschaffen, die wir brauchen. Denn viele haben trotzdem nicht genug zum Leben.« Bei der Gemeinde Weeze beklagt man ebenfalls, dass sich der Flughafen nicht in zusätzlichen Einnahmen niederschlägt: Zu wenige Unternehmen hätten sich dadurch angesiedelt; viele wären wohl auch ohne Flughafen gekommen.

Problematisch ist natürlich auch die Umweltbelastung dieser Regionalflughäfen. Der CO2-Ausstoß der Flugzeuge ist das eine, die Lärmbelastung das andere. Aber vor allem erzeugen die Landratspisten, auf denen tatsächlich Passagiermaschinen in großer Zahl starten und landen, massenhaft Verkehr. Denn die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel ist so gut wie immer schlecht. Nach Hahn und Weeze fahren nur Busse, mit begrenzten Kapazitäten. Auf Betreiben der Fluglinien stellen die Flughäfen stattdessen Parkplätze zu günstigen Preisen zur Verfügung. Viele Passagiere reisen also mit dem Auto an. Die Verkehrsbelastung sei enorm, beklagt man allerorten.

In Calden hat man es besser: Der Airport liegt direkt an einer Bundesstraße, die nicht durch den Ort verläuft. Doch wäre der Airport tatsächlich ausgelastet, würde es auch auf dieser eng werden, sagen die Menschen in Calden. Daran, dass es mit dem Flughafen jemals bergauf gehen wird, glaubt hier aber niemand, jedenfalls nicht als Airport. »Man könnte eine Filmkulisse draus machen«, witzelt Michaela Kuhlmann an der Bushaltestelle. Vor ein paar Jahren wurde im Terminal die Serie »Check Check« für das Streamingportal Joyn gedreht. Es ging um einen erfolglosen Flughafen.

Dass der 100er Bus aus Kassel mal Passagiere am Airport auslädt, ist im Dorf eine Attraktion.

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