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USA: Kein Land für Sozialismus?
Warum konnte sich in den USA – trotz Arbeitskämpfen – bislang keine starke linke Partei etablieren?
Die Amerikaner werden die ersten sein, die eine sozialistische Republik einführen», erklärte August Bebel, Führungsfigur der deutschen Sozialdemokratie gegenüber einem amerikanischen Journalisten im Jahr 1907 und ergänzte: «Wir hier in Deutschland warten geduldig darauf, dass die Vereinigten Staaten eine sozialistische Republik ausrufen – ihr seid reif dafür – und wir werden euch bald folgen.»
Bebel folgte damit den Annahmen von Marx und Engels. Sie waren ursprünglich davon ausgegangen, dass der sich rasant entwickelnde US-Kapitalismus die gesellschaftlichen Widersprüche dermaßen auf die Spitze treibe, dass die amerikanische Arbeiterklasse sich zur kämpfenden Vorhut der internationalen sozialistischen Bewegung entwickeln müsse. In Bezug auf den «Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen» zeige «das industriell entwickeltere Land dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft», heißt es bei Marx im Vorwort des ersten Bandes des «Kapital».
Engels schrieb 1887 im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» vom die Entwicklung des Klassenbewusstseins« begünstigterenden Boden Amerikas, wo keine feudalen Ruinen den Weg versperren, wo die Geschichte anfängt mit den im 17. Jahrhundert schon herausgearbeiteten Elementen der modernen bürgerlichen Gesellschaft». Aber die anfängliche Euphorie von Marx und Engels über die frühen Organisierungsprozesse der amerikanischen Arbeiterbewegung wurde schon zu deren Lebzeiten getrübt. Im Jahr 1892 beschwichtigt Engels seinen amerikanischen Genossen Friedrich A. Sorge angesichts der zähen Fortschritte beim Aufbau der sozialistischen Kräfte in den USA, es sei «ganz natürlich, wie in so einem jungen Land, das den Feudalismus nie gekannt, das von vornherein auf bürgerlicher Grundlage emporgewachsen, wie fest da die bürgerlichen Vorurteile in der Arbeiterklasse sitzen».
Bürgerliche Befriedungsprozesse
«Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?» betitelte der marxistische Soziologe Werner Sombart seine vielbeachtete, 1906 veröffentlichte Studie zu den Besonderheiten des Kapitalismus in den USA. Er untersucht, warum der Arbeiterklasse dort «das spezifisch proletarisch-sozialistische Gegensatzbewusstsein fehlt, das unsere [die deutschen] Arbeiter in ihrer großen Mehrzahl charakterisiert». Sombart nimmt Mithilfe einer Fülle von statistischen Erhebungen den im Vergleich zu Europa höheren Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter in den Blick, welcher sie gegen marxistische Vorstellungen immun mache: «An Roastbeef und Apple-Pie gingen alle sozialistischen Utopien zuschanden.»
Zudem verweist Sombart auf eine weitere Besonderheit der expandierenden Einwanderungsgesellschaft mit ihrer Siedlungsbewegung in Richtung Westen. Diese habe als dämpfender Faktor gegen Arbeiterunruhen in Krisenzeiten gewirkt, da den Arbeiterfamilien als Alternative zum Elend in der Stadt der Ausweg einer staatlich geförderten neuen Existenz als freier Bauer im Westen offen gestanden habe. Diese Option, so Sombart, «bricht jeder antikapitalistischen Agitation die Spitze ab». Tatsächlich bildeten die Glücksversprechen der Siedlungsbewegung eher die Brücke zu kleinbürgerlichen und individualistischen Vorstellungen vom freien Unternehmertum als zum proletarischen Klassenbewusstsein.
Der Rassismus einer ehemaligen Sklavenhaltergesellschaft ist ein Hindernis für die Entwicklung von Klassenbewusstsein.
Die von Sombart angestoßene Debatte förderte eine Reihe von Argumenten für das Verständnis dafür zutage, warum sich in den USA – auch über den von Sombart betrachteten Zeitraum hinaus – keine sozialistische Partei mit Massenbasis etablieren konnte. Je nach politischem Standpunkt ist das Erkenntnisinteresse dabei unterschiedlich: Marxistische Studien wollen aufspüren, welche landesspezifischen Hindernisse es für den Kampf um den Sozialismus zu beachten und aus dem Weg zu räumen gilt. Die bürgerliche Wissenschaft will hingegen die Zustimmung zur bestehenden Gesellschaftsordnung als anzustrebenden Idealzustand bekräftigen. Ein Beispiel: Friedrich Engels hatte darauf verwiesen, dass die Ideologie der freien bürgerlichen Gesellschaft in den USA weniger durch aristokratischen Ballast von alteingesessenen Schloss- und Großgrundbesitzern getrübt würde, als in den europäischen Staaten mit feudaler Vergangenheit. Konservative US-Soziologen haben dieses Argument begeistert aufgegriffen und bis in die 1960er Jahre weiterentwickelt zur These, dass die US-Amerikaner*innen aufgrund ihrer besonderen Geschichte durchdrungen seien vom Geist des liberalen Individualismus, den sie in der vorgefundenen demokratischen bürgerlichen Gesellschaft am besten entfalten könnten.
Ein genauerer Blick zeigt hier bereits die begrenzte Aussagekraft so mancher «Erklärung». Insbesondere die These vom bürgerlich-demokratischen Konsens ist sehr fragwürdig. Zumindest darf dabei nicht unerwähnt bleiben, dass großen Teilen der Bevölkerung diese Freiheiten nicht zugesprochen wurden – der indigenen Bevölkerung, welche von ihrem Land vertrieben, entrechtet und ermordet wurde, oder den Afroamerikaner*innen – gleich ob Sklave oder «frei». Die Südstaaten zu Zeiten der Sklavenhaltung und Herrschaft der Großgrundbesitzer sind schwerlich als bürgerlich-demokratische Gesellschaft zu beschreiben. Die großen Konflikte und Kämpfe gegen Diskriminierung und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen geraten zudem bei der These vom bürgerlich-demokratischen Konsens aus dem Blick. Vielmehr sollte der Rassismus einer ehemaligen Sklavenhaltergesellschaft als ein wesentlicher Faktor und Hindernis für die Entwicklung von Klassenbewusstsein in der Geschichte der USA benannt werden.
Ein weiterer Faktor, der die Organisationsbemühungen von Sozialist*innen bis ins frühe 20. Jahrhundert erschwerte war die hohe Mobilität und Diversität der Arbeiterklasse durch große Einwanderungswellen und Siedlerbewegung. Tatsächlich war die Siedlerbewegung über annähernd das ganze 19. Jahrhundert prägend für die Entstehung der USA. Als Millionen von europäischen Eingewanderten ihr Glück in den neu erschlossenen Gebieten des amerikanischen Westens suchten, etwa als Farmer oder Goldgräber – wenngleich viele sich letztlich als mittellose Feld- oder Minenarbeiter*innen verdingen mussten. Und in den Städten entstand um die verschiedenen Einwanderergruppen ein ganzes Geflecht von kulturellen, sozialen, religiösen und politischen Einrichtungen, die die Menschen entlang ethnischer Identitäten (italienisch, irisch, polnisch etc.) zu organisieren versuchten, anstelle nach Klasseninteressen einer multiethnischen Arbeiterschaft.
Integration der Arbeiterbewegung
Nichtsdestotrotz gab es parallel zur ländlichen Prägung großer Teile der USA eine massiv expandierende Industrie und damit verbunden eine wachsende Arbeiterklasse. Schon bald nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs begann in den USA eine Welle an Streiks und Arbeiterprotesten. Unser Feiertag, der Tag der Arbeit, hat den Ursprung in einem jener Streiks. Am 1. Mai 1886 traten in den USA rund 400 000 Beschäftigte aus 11 000 Betrieben in einen Generalstreik und forderten die Einführung eines Acht-Stunden-Tags. Alleine in Chicago hatten sich etwa 90 000 Arbeiter auf dem Haymarket Square zum Protest versammelt, wo es dann zu mehrtägigen Straßenschlachten mit der Polizei kam. Über die 1890er Jahre gab es durchschnittlich 1000 Streiks pro Jahr; im Jahr 1904 wurden 4000 Streiks gezählt, die mitunter sehr militant ausgefochten wurden.
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Anders als beispielsweise in England oder Deutschland gab es jedoch keine organische Verbindung der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung mit einer sozialistischen Partei; in England etwa wurde die Labour Party von den Gewerkschaften gegründet. Die beiden miteinander zu Beginn des 20. Jahrhunderts rivalisierenden Gewerkschaftsorganisationen American Federation of Labor (AFL), die lediglich Facharbeiter*innen organisierte, und die deutlich radikaleren Industrial Workers of the World (IWW) waren bei allen Unterschieden jeweils syndikalistisch ausgerichtet und somit gegen die Formation einer gesonderten politischen Partei als Interessenvertreterin der Arbeiter auf der überbetrieblichen Ebene.
Ironischerweise entwickelte sich in den Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sombarts Studie «Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?» doch eine nennenswerte und aufstrebende sozialistische Partei in den USA: die Socialist Party. Zum Höhepunkt im Jahr 1912 hatte die Partei etwa 100 000 Mitglieder und 1200 Mandatsträger in 340 Gemeinden. Ihr Kandidat Eugene V. Debbs bekam im selben Jahr bei der Präsidentschaftswahl sechs Prozent der Stimmen. Die wichtigste Zeitung der Partei, in der auch das oben zitierte Statement von August Bebel erschienen war, hatte eine halbe Million Abonnent*innen.
Die Socialist Party hatte jedoch schwache Wurzeln in der Industriearbeiterschaft und kaum Anziehungskraft auf neu eingewanderte migrantische Beschäftigte. Das lag auch daran, dass die Partei wenig aktiven Bezug nahm auf die großen Streikwellen, welche bis 1919 wiederholt aufflammten. Sie maß den Fortschritt des Sozialismus eher an den Wahlergebnissen und das führte dazu, dass sie die Organisierung vernachlässigte, wenn es nicht um Wahlkämpfe ging. Das machte die Partei anfälliger für die scharfen staatlichen Repressionen, die mit Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg gegen alle «unpatriotischen» Kräfte verhängt wurden. Der Niedergang der Socialist Party wurde besiegelt durch die Abspaltung eines Flügels, der sich nach der russischen Oktoberrevolution an der Kommunistischen Internationale orientierte und 1919 die Communist Party gründete. Auch die radikale Gewerkschaft IWW wurde hart getroffen von den Repressionen nach Eintritt der USA in den Krieg und öffentlich zerschlagen, als 1918 in einem großen Schauprozess 101 ihrer führenden Persönlichkeiten und Funktionäre zu überwiegend jahrelangen Haftstrafen verurteilt wurden, wegen «Verschwörung zur Behinderung der Einberufung und Förderung der Desertion.»
Als aufgrund der schweren Wirtschaftskrise nach dem Börsencrash 1928 erneut große Sozialproteste und betriebliche Kämpfe auf der Tagesordnung standen, zeigte sich eine weitere Besonderheit der US-Politik, welche der Etablierung einer sozialistischen Partei bis heute entgegenwirkt: die Vereinnahmung progressiver Kräfte durch die Demokratische Partei.
Während des «New Deals», einer staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der ökonomischen und sozialen Krise in den 1930er Jahren, gelang dem Demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt die Einbindung der Gewerkschaften, welche zu dieser Zeit mit den Unternehmern ihre größten Kämpfe um Anerkennung ausfochten. Roosevelt erließ im Juli 1935 ein Gesetz, welches die Unternehmer verpflichtete, die freie Gewerkschaftswahl ihrer Beschäftigten zu akzeptieren. Ermutigt durch die Gesetzgebung der Regierung fand in den Jahren 1935 bis 1937 die erfolgreichste Organisierungskampagne in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung statt. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg von zwei Millionen im Jahr 1933 auf sieben Millionen Ende 1937. Ein Slogan des neuen Gewerkschaftsverbands Congress of Industrial Organizations (CIO) lautete: «Dein Präsident will, dass Du der Gewerkschaft beitrittst.» Der Präsident war kein Sozialist. In seinen eigenen Worten verstand er sich als «Retter des Systems von privatem Profit und freiem Unternehmertum». Roosevelt hoffte vielmehr, die spontanen Kämpfe einhegen zu können, wenn er die Gewerkschaften politisch integriere. Die damit verbundenen Konzessionen schienen ihm gegenüber der Unkontrollierbarkeit wilder Streikbewegungen als ein kleineres Übel.
Zäsur Zweiter Weltkrieg
Auch die Communist Party konnte in den 30er und 40er Jahren beachtliches Wachstum verzeichnen. Ihre Mitgliederzahlen unterlagen allerdings starken Schwankungen aufgrund ihres politischen Zickzackkurses, bei dem sie der aus Moskau vorgegebenen Linie der Komintern folgte. Beispielsweise machte sie eine Wende beim Kampf gegen den Faschismus während des Hitler-Stalin-Paktes und stellte sich vehement gegen den Kriegseintritt der USA gegen Deutschland. Eine Kurswende um 180 Grad folgte nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion 1941. Nun unterstütze die Partei den Kriegseintritt des US-Militärs bedingungslos – bis hin zur Unterstützung der Verpflichtung einiger Gewerkschaftsführungen, während der Dauer des Krieges auf Streiks zu verzichten. Nichtsdestotrotz hatte sich die Kommunistische Partei durch die aktive Beteiligung am Aufbau der neuen Industriegewerkschaft CIO eine Basis in der Arbeiterschaft verschafft und die Partei trat aus der politischen Isolation, als 1941 die USA sich gemeinsam mit der Sowjetunion an der Anti-Hitler-Koalition beteiligten. Nach dem Sieg über Hitler drehte sich mit dem neuen Kalten Krieg der USA gegen die Sowjetunion der Wind auch innenpolitisch gehörig, was in der antikommunistischen Hexenjagd der McCarthy-Ära der 1950er Jahre gipfelte. Schließlich implodierte die Communist Party 1956 infolge der Kritik an den Verbrechen Stalins durch dessen Nachfolger an der Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow.
Die informelle Koalition der Gewerkschaften mit der Demokratischen Partei zur Zeit des New Deal erwies sich als beständiger und fand ihren Nachhall. Sie wurde erst kürzlich beim Nominierungsparteitag der Demokraten deutlich, wo die Vorsitzenden fast aller großen Gewerkschaften Unterstützungsreden für Kamala Harris hielten – die, entgegen der Behauptungen von Donald Trump, nichts mit Sozialismus am Hut hat.
Das mit der hohen Hürde des Mehrheitswahlrechts befestigte Zwei-Parteien-System hat in der Nachkriegsgeschichte immer wieder dazu geführt, dass fortschrittliche Bewegungen mangels einer greifbaren linken Partei ihre Hoffnungen in die Demokratische Partei setzten – und enttäuscht wurden. Die Demokraten fungieren als Stoßdämpfer für den Kapitalismus, indem sie die Forderungen der sozialen Bewegungen zähmen, ihre Politik in institutionelle Bahnen lenken und ihre führenden Personen in die konventionelle Politik einbinden. Im Prozess der Vereinnahmung wird der Veränderungsdruck dabei durch die Partei so weit entschärft, dass die Macht- und Eigentumsverhältnisse des amerikanischen Kapitalismus möglichst unangetastet bleiben.
Was bleibt?
Etliche der aufgeführten «Besonderheiten», als Hindernisse für die Herausbildung einer großen sozialistischen Partei in den USA, sind historischer Natur und heute nicht mehr relevant – etwa die Siedlerbewegung oder der permanente Austausch der Arbeiterschaft. Auch ist der Lebensstandard der amerikanischen Arbeiterklasse nicht höher als in Europa.
Aus heutiger Perspektive gibt es ein grundsätzliches Problem mit der Fragestellung beziehungsweise Annahme, dass sich die westeuropäischen Staaten durch die Existenz großer sozialistischer Arbeiterparteien von den USA unterschieden. Die sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien Westeuropas kämpfen nicht (mehr) für den «Sozialismus». Die Deutsche Sozialdemokratie wollte das bekanntlich schon in der Deutschen Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr und sah sich auch in der tiefen Krise der Weltwirtschaft vor der Machtübernahme Hitlers als «Arzt am Krankenbett des Kapitalismus» anstelle eines Totengräbers desselben. Zugleich sind die Parteien links der pro-kapitalistischen sozialdemokratischen Parteien in Europa heute schwach und teilweise von Krisen gebeutelt. Die deutsche Linke ist keine Ausnahme.
Das Fehlen einer starken sozialistischen Kraft ist also keine Besonderheit der USA. Die Bedingungen für den Aufbau einer solchen wären heute dort vermutlich nicht schlechter als in Europa – worauf etwa die große Popularität des bekennenden Sozialisten Bernie Sanders hinweist. Die Emanzipation der progressiven Kräfte in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen von der Demokratischen Partei wäre eine Voraussetzung.
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