Schon wieder Standortdebatte

Die Schwarzmalerei mit der Deindustrialisierung fruchtet – und bekommt mit Friedrich Merz den passenden Kanzlerkandidaten

Die Debatte über angeblich bedrohte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie verschleiert die eigentlichen Herausforderungen.
Die Debatte über angeblich bedrohte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie verschleiert die eigentlichen Herausforderungen.

Der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) sieht die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Unternehmen gefährdet: Die seit Jahren schwachen Wachstumsraten deuteten darauf hin, dass die Rahmenbedingungen am Standort Deutschland nicht richtig seien. »Politisch unbequeme Entscheidungen werden vertagt, verschoben und zerredet«, lässt der BDI-Mann auf dem Unternehmertag der Wirtschaft in Berlin und Brandenburg kein gutes Haar an der Regierung. Seine Forderungsliste ist lang: Abgebaut werden müssten die Lohnkosten und Steuern, die so hoch wie nirgends sonst seien, ebenso Regulierung und Bürokratie, insbesondere die »strengen Auflagen beim Umweltschutz«. Und dann noch die hohen Energiepreise: »Der Strompreis steigt und steigt«, sagt der Chef des Kupferproduzenten Norddeutsche Affinerie, der auch den BDI-Energieausschuss leitet, in einem Interview. »Das ist ein Beitrag zur Deindustrialisierung Deutschlands.«

Seit Monaten kritisiert die Unternehmenslobby gebetsmühlenartig, wie schlecht es um die deutsche Industrie bestellt sei, weil die Ampel-Koalition die Rahmenbedingungen verschärft oder zumindest nicht verbessert habe. Die obigen Zitate geben die Kritikpunkte gut wieder – doch sie sind mehr als 20 Jahre alt. Seit der Schlussphase der Ära Helmut Kohl und erst recht unter Gerhard Schröder setzten die Verbände die Regierung mit einer »Standortdebatte« unter Druck. Wortführer waren der konzernnahe BDI und die mittelständisch geprägte Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Deren langjähriger Präsident Dieter Hundt erklärte 1999 auf der 50-Jahre-Jubiläumsfeier in Berlin, worum es vor allem ging: den Umbau der Sozialversicherungssysteme zu einer Basis-Sicherung und den Ausbau der privaten Eigenvorsorge. Ziel müsse sein, die Kosten der Sozialsysteme von den Arbeitsverhältnissen zu entkoppeln.

Solche Äußerungen blieben weitgehend unwidersprochen, denn es war die Hochphase des neoliberal dominierten öffentlichen Diskurses in Deutschland: Der wissenschaftliche Mainstream samt den Regierungsberatern stieß ins gleiche Horn, in den Medien wurde dies genauso wenig infrage gestellt wie in den großen Parteien. Selbst die Bundesbank, die politisch eigentlich neutral sein sollte, schrieb ungewöhnlich undiplomatisch: »Deutschland ist nicht fit für den Standortwettbewerb.«

Vor diesem Hintergrund war das Bündnis für Arbeit, in dem die neue rot-grüne Regierung ab Ende 1998 in konzertierter Aktion mit Unternehmen und Gewerkschaften Lösungen für die damaligen Probleme suchte, zum Scheitern verurteilt. Schnell ging es nur noch um »Reformen«, als Synonym für Kostensenkung und Sozialabbau. Die Standortdebatte zeigte die gewünschte Wirkung: Die Unternehmenssteuern samt Spitzensteuersatz wurden massiv gesenkt. Begonnen unter Norbert Blüm (CDU), ging es der gesetzlichen Rente an den Kragen. SPD-Sozialminister Walter Riester senkte 2001 das Rentenniveau massiv ab und führte eine staatliche geförderte private Zusatzversorgung ein. Höhepunkt war Schröders Agenda 2010 mit dem Kernstück Hartz IV, die dazu führte, dass die Sozialleistungen gekürzt, der Arbeitsmarkt flexibilisiert und ein riesiger Niedriglohnsektor geschaffen wurden.

Wirtschaft wird mit Unternehmen gleichgesetzt.

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Die wirtschaftliche Lage war damals kritischer als heute: Infolge des New-Economy-Crashs, des Endes des im Westen spürbaren Vereinigungsbooms und der – tatsächlichen – Deindustrialisierung Ostdeutschlands im Gefolge der Treuhand-Privatisierung nahm die Massenarbeitslosigkeit weiter zu, Anfang 2005 waren bundesweit über fünf Millionen Menschen offiziell als arbeitslos registriert. Mit der Standortdebatte schaffte es die Unternehmerlobby, eine falsche Diagnose der Misere zu setzen: Wegen zu hoher Lohnkosten komme es zu Stellenabbau und Abwanderung von Betrieben. Tatsächlich lag Deutschland damals – und liegt bis heute – unter den Industrieländern eher im Mittelfeld bei den Lohnstückkosten. Diese Kennziffer, die die hohen Nominallöhne in Relation zur Produktivität setzt, ist entscheidend, wie Ökonomen wissen: Im Standortwettbewerb vorn ist nicht, wer billiger produziert, sondern wer produktiver ist und die qualitativ besseren Produkte hat.

Die Folgen der Agenda-Politik waren neben sozialer Verunsicherung, die den Aufstieg der AfD miterklärt, sinkende Arbeitskosten und über viele Jahre »moderate« Lohnrunden, die die Binnenkonjunktur in Deutschland schwächten, Innovation behinderten und einen Exportboom brachten – letztlich finanzierte das Ausland den hiesigen Aufschwung. Die Abhängigkeit ist extrem hoch: »Gut 50 Prozent unseres Wohlstandes hängen an der exportorientierten Industrie«, meint der BDI in einer aktuellen Untersuchung. Seit Corona lahmt aber die Weltwirtschaft, und der Boom im jahrelang wichtigsten Markt China scheint dauerhaft vorbei. Selbst große Industrieländer wie die USA setzen zudem auf Protektionismus und subventionieren Investitionen im Inland. Zusätzlich belasten internationale Konflikte den Freihandel. Die alte Rechnung geht nicht mehr ganz auf, das Wachstum in Deutschland ist schwächer als anderswo.

Die Lage heute ist indes weniger kritisch als damals – die Arbeitslosenraten sind weiterhn relativ niedrig, und es herrscht eher Arbeitskräftemangel. Wenn dennoch die Worthülsen von bedrohter Wettbewerbsfähigkeit und Deindustrialisierung wieder zum Einsatz kommen, stehen neue Wünsche im Vordergrund: ein niedriger Industriestrompreis und der Bürokratieabbau, obwohl die Finanz- und Weltwirtschaftskrise ab 2008 deutlich gemacht hat, wohin Deregulierung führen kann. Gefordert wird zudem eine unterstützende Außenpolitik: »ein pragmatisches Konzept für wirtschaftliche Sicherheit, auch für die Zusammenarbeit mit China«, wie es der BDI in einem aktuellen Papier nennt. Anders formuliert: Internationale Konflikte dürfen nicht die Unternehmensinteressen gefährden.

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Noch etwas hat sich verändert: Seit dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin haben fast alle Konzerne in der Hauptstadt Repräsentanzen errichtet und versuchen mit großen »Public-Affairs«-Abteilungen, selbst auf Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen. Regelmäßige Treffen mit Regierungsvertretern wie der Autogipfel am kommenden Montag zeigen dies. Die Verbände sind dadurch geschwächt und formulieren daher ruppiger als früher – um noch gehört zu werden. »Die Unternehmen haben das Vertrauen in die Bundesregierung verloren«, schimpft etwa BDA-Chef Rainer Dulger. »Uns reißt mittlerweile der Geduldsfaden.« Und DIHK-Präsident Peter Adrian sieht eine »tiefe Vertrauenskrise zwischen Wirtschaft und Politik«.

Dabei hat die Ampel durchaus geliefert. Das Wachstumsförderungsgesetz bescherte neuerliche Steuersenkungen, mit den Klimaschutzverträgen wurde ein neues Förderprogramm für die Industrie aufgelegt. Massive Subventionen von Neuansiedlungen wurden im Klima- und Transformationsfonds festgeschrieben. Und auf EU-Ebene sind die deutschen Regierungsvertreter häufig dabei, wenn es um die Abschwächung geplanter Umweltvorgaben für Unternehmen geht.

Ganz offensichtlich fruchten die Äußerungen von BDI, BDA & Co. Geschimpft wird weiter – weil man mehr wünscht und die traditionell CDU/CSU-nahen Verbände auf einen Regierungswechsel im kommenden Jahr setzen. Mit Friedrich Merz geht nun auch der passende Kanzlerkandidat ins Rennen. Er greift die Schwarzmalerei gerne auf und kündigte diese Woche an, im Wahlkampf der Wirtschaftspolitik eine zentrale Bedeutung geben zu wollen, da die Lage in Deutschland »prekär« sei. Generell müssten die Rahmenbedingungen am Standort Deutschland besser werden, damit »die Wirtschaft insgesamt wieder auf die Beine kommt«. Da Merz selbst ein Kind der 90er-Debatte ist, dürfte dies auch echten Sozialabbau etwa beim Bürgergeld umfassen, nicht nur fiskalisch bedingte punktuelle Kürzungen wie bei der Ampel. Das wäre auch ein Unterschied zur Ära Angela Merkel.

Die Interessen der einzelnen Konzerne und Branchen sind indes durchaus konträr wie in der Frage des Tempos der Energiewende. Der designierte nächste Kanzler unterstützt dabei die Agenda der konservativen Unternehmerfraktion. Er will auch umweltschädliche Subventionen beibehalten und alle gleichmäßig bedienen, selbst die fossilen Industrien.

Dabei macht sich selbst der BDI in einem neuen Positionspapier dafür stark, der Klimaneutralität »höchste Priorität« zu geben und die Transformation der Industrie entsprechend zu unterstützen. Strukturwandel oder »kreative Zerstörung«, wie es der Joseph Schumpeter einst ausdrückte, ist nunmal Kernbestandteil des Kapitalismus. Bereits in den 1970ern wanderten Industriezweige wie Textilien und Bekleidung oder einfache Unterhaltungselektronik zu großen Teilen ab, dafür boomten andere Sektoren und auch Dienstleistungen. Die Computerisierung ab 1990ern brachte weitere Brüche mit sich.

Die Neuauflage der Standortdebatte nutzt alten Industrien und könnte die Innovationskultur behindern, was tatsächlich in Zukunft zu einem Wettbewerbsproblem werden könnte. Dass die falsche Diagnose dennoch von zahlreichen Parteien und Medien gerne aufgegriffen wird, ist ebenfalls Ergebnis der Standortdebatte um die Jahrtausendwende zurückzuführen. Diese brachte eine folgenreiche Begriffsverschiebung im öffentlichen Diskurs mit sich: Wirtschaft wird seither mit Unternehmen gleichgesetzt. Die anderen Akteure der Volkswirtschaft – Beschäftigte, Verbraucher, Staat – sind bestenfalls Anhängsel. Und wenn über Wirtschaftspolitik gesprochen wird, fallen soziale Belange, Umwelt- und Gesundheitskosten der Produktion hinten runter. Kein Wunder, dass in Umfragen der CDU/CSU regelmäßig die meiste wirtschaftspolitische Kompetenz zugewiesen wird.

Die Transformation zu fördern und mit einer entsprechenden Sozial-, Bildungs- und Umweltpolitik zu begleiten wäre dabei die eigentliche Aufgabe der Wirtschaftspolitik. Auch das ist keine neue Erkenntnis: »Das entscheidende Manko dieser Standortdebatte ist, dass wichtige Standortfaktoren nicht oder allenfalls oberflächlich angesprochen werden«, schrieb Albrecht Müller 1996 in einer Untersuchung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Schwarzmalerei der Unternehmenslobby hielt er ein optimistisches Szenario entgegen: »für eine innovative moderne Industrie- und Forschungspolitik, eine neue Bildungsoffensive zur breiten Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, eine Ausgabenpolitik des Staates, die für eine gute Infrastruktur und gute öffentliche Leistungen sorgt, aber Klötze am Bein der Volkswirtschaft vermeidet, ein effizientes soziales Netz, das den sozialen Frieden erhält und auch jene auffängt, die Opfer der Globalisierung der Arbeits- und Warenmärkte sind und werden«.

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