Nordsyrien: »Bedrohung durch Schläferzellen hält an«

Der Journalist Sefkan Kobanê* schloss sich vor zehn Jahren als Jugendlicher dem kurdischen Widerstand gegen den IS an

  • Interview: Justus Johannsen
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein Kämpfer der syrisch-kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) hält Stellung hinter Sanitätssäcken während der Kämpfe gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) am 7. November 2014 in der belagerten syrischen Grenzstadt Kobanê.
Ein Kämpfer der syrisch-kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) hält Stellung hinter Sanitätssäcken während der Kämpfe gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) am 7. November 2014 in der belagerten syrischen Grenzstadt Kobanê.

Im September 2014 begann der Angriff des sogenannten Islamischen Staates (IS) auf die Stadt Kobanê in Nordsyrien. Viele junge Menschen haben sich dazu entschlossen, die Stadt zu verteidigen, darunter auch Sie. Wie kam es dazu?

Vor dem Angriff am 15. September 2014 im Kanton Kobanê gab es bereits einen im Hochsommer davor. Das Ziel war die Zerstörung der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien. Am 3. August 2014 brach mit dem Völkermord des IS an der Bevölkerung von Schingal im Nordirak und dem Verkauf von jesidischen Frauen und Mädchen als Sklavinnen eine grausame Zeit an. Jeder, der ein Gewissen besaß, wurde aufgerüttelt durch die unmenschlichen Praktiken des IS. Auch für mich war es unmöglich, tatenlos zuzusehen. Am 19. Juli 2014, dem zweiten Jahrestag der Revolution in Kobanê, haben wir als Jugendliche, die sich auf beiden Seiten der türkisch-syrischen Grenze, in Suruç und Kobanê, versammelt hatten, gemeinsam mit Tausenden Kurdinnen und Kurden den Grenzzaun in Richtung Kobanê durchbrochen.

Wer kam noch nach Kobanê, um sich dem Widerstand anzuschließen?

Die Mehrheit waren Jugendliche, aber es waren auch ältere Männer und Frauen dabei. Kurdische Studierende und revolutionäre demokratische Gruppen aus der Türkei kamen, um uns zu unterstützen. Auch etwa 150 junge arabische Kämpfer der »Revolutionäre von Raqqa« sowie arabische und turkmenische Jugendliche kämpften an der Seite der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und der Frauenverteidigungseinheiten YPJ gegen den IS.

Interview

Im September 2014 erschütterte der Vormarsch der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) den Nahen Osten und die Welt. Die Terrororganisation hatte nach der kampflosen Einnahme von Mossul und dem Genozid im jesidischen Schingal den Norden Syriens, insbesondere die Stadt Kobanê, ins Visier genommen. Dort hatte sich ein kurdischer Widerstand organisiert, der dem IS standhielt. Am 26. Januar 2015, nach 134 Tagen Kampf, wurde die Befreiung der Stadt verkündet. Der Journalist Sefkan Kobanê* kämpfte als Jugendlicher in den kurdischen Einheiten.

Warum wurde gerade Kobanê vom IS angegriffen?

Kobanê war der kleinste und am dünnsten besiedelte der drei selbstverwalteten Kantone in Rojava. Da Kobanê in der Mitte der Kantone Afrin und Cizîre liegt, wollte der IS einen Keil zwischen die beiden Gebiete schlagen.

Wie konnte der IS so schnell aus dem Irak vorrücken?

Mit im Irak erbeuteten Waffen eroberten die IS-Kämpfer die syrische Stadt Raqqa, dann fielen ihnen auch die Waffen der syrischen Panzerverbände in der Stadt Ain Issa in die Hände. Sie umzingelten Kobanê von vier Seiten und begannen mit Panzern und Artillerie anzugreifen. Während sie Dörfer niederbrannten, mussten Hunderttausende Kurden die Grenze zur Türkei überqueren und wurden zu Flüchtlingen. Sie konnten nur mit wenigen Habseligkeiten fliehen.

Wie haben Sie die Angriffe erlebt?

Als Kobanê angegriffen wurde, zogen sich die Einheiten der YPG ins Zentrum zurück, da es nicht einfach war, ein solch großes Gebiet zu schützen. Es wurden neue Verteidigungslinien gebildet und von dort aus gekämpft. Im Dorf Serzuri beispielsweise haben zwölf YPG- und YPJ Kämpfer zwei Tage lang bis zur letzten Kugel gegen die IS-Terrormiliz Widerstand geleistet und sind schlussendlich gefallen. In den heftigen Kämpfen an vielen Fronten hatten wir dem hochgerüsteten IS mit unseren leichten Waffen zunächst wenig entgegenzusetzen.

In einer ARD-Dokumentation des türkischen Exil-Journalisten Can Dündar wurde letzten Monat über türkische Waffenlieferung an dschihadistische Milizen in Nordsyrien berichtet. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Die Bilder zeigen, wie der türkische Staat in Abstimmung mit IS-Banden direkt an der Grenze agiert, sie wurden von kurdischen Reportern an den türkischen Außenposten im Bezirk Suruç aufgenommen. Journalisten berichteten darüber, wie ein Zug die Grenzlinie von Kobanê passierte und türkische Soldaten den IS-Kämpfern Munition, Waffen und Sprengstoff übergaben. Außerdem überquerten IS-Kämpfer die Grenze zum türkischen Bezirk Suruç und griffen von dort aus über die Getreidelager am Grenztor von Mürşitpınar Kobanê an, wurden aber zurückgeschlagen.

Welche Rolle spielte die Unterstützung aus dem kurdischen Teil der Türkei für den Widerstand in Kobanê?

Die Menschen aus Nordkurdistan, jenseits der türkischen Staatsgrenze, hatten Zelte an der Grenze in Suruç aufgebaut und begannen, Tag und Nacht Wache zu stehen. Nach der Aussage des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan »Kobanê wird fallen« begannen die Menschen in ganz Kurdistan am 6. Oktober 2014 einen großen Widerstand, der als Kobanê-Aufstand bekannt wurde. Dieser erreichte seinen Höhepunkt mit dem Aufruf von Abdullah Öcalan von der Gefängnisinsel Imrali, indem er alle Menschen in Kurdistan aufrief, sich zur Verteidigung von Kobanê einzusetzen. Hunderten von Guerillakämpfern aus den kurdischen Bergen auf türkischem Staatsgebiet gelang es, relativ ungehindert nach Kobanê vorzudringen. Außerdem konnten YPG-Einheiten aus den Kantonen Afrin und Cizîre die Umzingelung durch den IS umgehen und über die Türkei nach Kobanê vordringen. Später verstanden wir, dass der türkische Staat damit versuchte, Kobanê als eine Art Falle zu nutzen, um die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen. Während die umliegenden Dörfer vom IS erobert wurden, verblieben nur noch zwei Bezirke im Stadtzentrum von Kobanê in den Händen der Volksverteidigungskräfte. Die Kämpfe um die Stadt Kobanê dauerten mehr als 130 Tage an, Haus für Haus, Straße für Straße wurde Widerstand geleistet. In den umliegenden Dörfern wurde mit Guerillataktiken gekämpft.

Kobanê löste sich 2012 durch die Revolution in Rojava vom syrischen Regime und ist heute Teil der Demokratischen Selbstverwaltung Nordostsyriens (Daanes). Wie war das möglich?

Das Volk von Rojava in Nordsyrien verwaltet sich seit dem Beginn der Revolution in Kobanê am 19. Juli 2012 weitgehend selbst und basisdemokratisch. Inspiriert wurde es dabei durch das Modell der demokratischen Autonomie, das Abdullah Öcalan entwickelt hat. Als Alternative zum syrischen Baath-Regime und islamistische Kräften entstand eine demokratisch-ökologische Bewegung, angeführt von Frauen, die zuerst in Rojava eine Selbstverwaltung aufbaute und später die Daanes etablierte. Mit ihr wurde als Alternative zu den nationalistischen und religiösen Konflikten des Mittleren Ostens ein System geschaffen, in dem die kurdischen, arabischen, assyrischen, armenischen und turkmenischen Gemeinschaften der Region auf Grundlage von Selbstbestimmung zusammenkommen und ihren Glauben und ihre Kultur frei ausüben können. Aber es gab von Beginn an islamistische Kräfte, unterstützt von der Türkei und Katar, die die Region angriffen.

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Der Widerstand von Kobanê mobilisierte damals eine große internationale Solidarität. Welchen Einfluss hatte dies vor Ort?

Kobanê ist zum Symbol des Widerstands gegen den barbarischen IS geworden. Obwohl sie eine kleine Stadt ist, hat die internationalistische Dimension ihres Widerstandes die Solidarität der fortschrittlichen demokratischen Teile der Welt hervorgerufen. Der 1. November wurde zum »Welt-Kobanê-Tag« erklärt, an dem Menschen weltweit für Kobanê und die Menschlichkeit – gegen den IS – auf die Straße gingen. Durch den Widerstand vor Ort und die internationale Solidarität wurde der Druck so groß, dass sich die internationale Anti-IS-Koalition zum Eingreifen gezwungen sah. Dabei verfolgte sie jedoch vor allem ihr eigenes Interesse, die revolutionären Kurden unter ihre Kontrolle zu bringen.

Ist der IS heute noch eine Bedrohung?

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von der YPG angeführt werden, kämpfen bis heute gemeinsam mit der internationalen Anti-IS-Koalition gegen die anhaltende Bedrohung durch den IS. Ihr Kampf hat bisher mindestens 13 500 Tote und 25 000 Verletzte gekostet. Doch unter den Tausenden gefangenen IS-Kämpfern und ihren Angehörigen in den Gefängnissen und Lagern im Nordosten Syriens, mit denen die Selbstverwaltung allein gelassen wurde, organisiert sich der Geist des IS weiter. Die Bedrohung durch Schläferzellen hält an. Auch in den von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens ist die Bedrohung durch radikal-islamistische Milizen, unter ihnen IS-Mitglieder, weiterhin präsent. Viele Islamisten sind in jüngster Zeit aus Syrien nach Deutschland gekommen. Auch der Attentäter der schrecklichen Tat in Solingen befand sich zuvor in besetzten Gebieten. Durch die türkischen Angriffe kommen täglich wehrlose Zivilisten in Nordsyrien durch Drohnenangriffe ums Leben, und die Gefahr eines erneuten Einmarsches durch die Türkei ist auch in Kobanê weiterhin akut. Doch zehn Jahre nach der Schlacht von Kobanê leistet die demokratische Selbstverwaltung Nordostsyriens weiterhin Widerstand. Den politischen Status dieser Region hat die Weltgemeinschaft aufgrund eigener schmutziger wirtschaftlicher und politischer Interessen mit dem türkischen Staat noch immer nicht anerkannt. Aber Kobanê inspiriert Menschen weltweit.

*Der Name ist ein Pseudonym.

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