- Kultur
- 7. Oktober
Nur die Tränen trocknen von allein
Wie fühlt es sich an, den Ort zu besuchen, an dem die Hamas letztes Jahr Hunderte Menschen ermordete und verschleppte? Ein Bericht aus Israel
Es ist Freitag, der 12. Juli 2024. Ich, Dan, bin mit meiner Partnerin Maren und meinem Vater auf dem Weg zu dem Ort, an dem das Supernova Sukkot Gathering (Nova-Festival) am siebten Oktober 2023 sein grausames Ende nahm. Die radikalislamistische Hamas ermordete in den Morgenstunden 364 Menschen, die auf dem Psytrance-Festival friedlich gefeiert hatten und entführte 40 weitere in den Gazastreifen. Einige von ihnen sind mittlerweile wieder in Israel, einige sind tot, einige harren noch ihrer Freilassung.
Kürzlich ist mein Vater 70 geworden. Wir sind nach Israel gekommen, um mit ihm und der Familie Geburtstag zu feiern. Im Vorhinein hatten wir ein mulmiges Gefühl, versuchten abzuwägen zwischen Familienbesuch und Sicherheitsrisiko. Der Krieg ist in Israel allgegenwärtig. Seit dem siebten Oktober im vergangenen Jahr ist kein Tag vergangen, an dem wir uns keine Sorgen um die Familie gemacht haben.
Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen fühle ich mich in Israel als Teil der Familie, und als Jude weiterhin wohl und in Sicherheit. Wenigstens muss ich hier keine Angst haben, auf offener Straße angegriffen zu werden. Darauf kann ich in Berlin, meinem Wohnort, nicht überall vertrauen. Trotz der riskanten Sicherheitslage, trotz des Krieges Israels gegen die iranischen Stellvertretermilizen Hamas und Hisbollah, haben wir uns also entschieden, hierher zu fliegen. Schon während des Flugs und bei unserer Ankunft bemerkten wir, wie angespannt die Stimmung überall ist. Es saßen fast nur Israelis im Flieger. Nach der Landung trafen wir auf meine Familie. Mein Vater fragte uns schon am Anfang unseres Aufenthalts, ob wir mit ihm das Gelände besuchen möchten, auf dem das Nova-Festival stattgefunden hat. Zunächst zögerten wir. Einige Tage später fragte er noch einmal – es scheint ihm wichtig zu sein, dass wir ihn dorthin begleiten. Vor allem scheint es mir so, als sei es ihm wichtig, dass ich als sein Sohn ihn dorthin begleite. Einige Freund*innen und Bekannte haben uns gesagt, sie fänden es gut, dass wir hinfahren, könnten es aber selbst nicht aushalten. Sie hätten Angst, auf dem Gelände zusammenzubrechen und sich nicht mehr davon zu erholen.
Dan Rattan ist deutscher Jude mit Vater und Familie in Israel. Maren Romstedt ist Antisemitismusforscherin und hat das Land ebenso wie er schon viele Male besucht. Die beiden erzählen in diesem Text von ihrem Aufenthalt auf dem Gelände des Nova-Festivals aus zwei Perspektiven, die sich manchmal ergänzen, manchmal überschneiden und manchmal auch auseinandergehen.
Wir sitzen im Auto. Vor Ort, wissen wir, erwartet uns die Wüste. Die Temperaturen erreichen an diesem Nachmittag 35 Grad. Je weiter südlich wir kommen, desto leerer werden die Straßen. Entlang der Fahrbahn begleiten uns Schilder mit Bildern der Entführten. Überall prangen ihre Fotos und sind mit einer klaren Botschaft versehen: »Bring them home« (Bringt sie nach Hause). Es gibt auch einige Schilder und Graffitis mit Handlungs- oder Rücktrittsforderungen gegenüber Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seiner rechten Regierung. Wir fahren an Sderot vorbei, einer Stadt an der Grenze zum Gazastreifen. Hier ist die Hamas ebenfalls am siebten Oktober eingefallen, von hier erreichten uns in Berlin am Morgen jenes Tages die ersten Bilder von bewaffneten Terroristen auf Pick-up-Wagen. Nun sehen wir offenbar auch schon die ersten Spuren des Massakers. Neben den Bushaltestellen stehen kleine Bunker. Diese Bunker wurden vor Jahren gebaut, um sich im Alltag vor den seit 2002 regelmäßig stattfindenden Raketenangriffen der Hamas schützen zu können. Einige zeigen eine Vielzahl von Einschusslöchern. Woher diese kommen, wissen wir nicht genau – doch wir vermuten, dass es sich um Einschüsse des siebten Oktobers handelt. Denn es war diese Strecke, auf der die Hamas-Terroristen nach Sderot und Ashkelon vorrückten. Ab hier begegnen uns kaum mehr normale Passagierfahrzeuge, fast nur noch Militärkonvois der Israel Defence Forces (IDF). Auf den Straßenschildern lesen wir die Namen der Kibbuzim, die weltweit traurige Bekanntheit erlangten: Be’eri, Kfar ’Aza und Nir Oz. Die Orte, an denen ganze Familien auf grauenhafteste Weise in ihren Häusern ermordet, verbrannt, systematisch vergewaltigt und entführt worden sind.
Auf der Tanzfläche
Ich, Maren, war noch ein Jahr zuvor im Kibbuz Kfar ’Aza zu Besuch. Im Rahmen eines Studienprogramms habe ich dort eine Künstlerin kennengelernt, die mit einer Person aus dem Gazastreifen ein Fotoprojekt leitete, im Sinne des friedvollen Nebeneinanderlebens. Das hatten sich beide gewünscht. Das Projekt musste allerdings abgebrochen werden. Der israelischen Künstlerin wurde mitgeteilt, dass die palästinensische Künstler*in sowie deren Familie in Gaza aufgrund des Kontaktes zu ihr von der Hamas bedroht worden seien. Nun wohnt sie selbst nicht mehr in Kfar ’Aza. Wie die meisten der Bewohner*innen des Kibbuz wurde sie nach dem siebten Oktober entweder nach Eilat, der Hafenstadt ganz im Süden des Landes, oder ins Zentrum von Israel evakuiert. Am Tag des Massakers wurden über hundert Kibbuz-Bewohner*innen ermordet, einige in den Gazastreifen entführt.
Die Orte, an denen wir vorbeifahren und die vor einem Jahr noch belebte Gemeinden waren, wirken nun wie ausgestorben. Kurze Zeit später erreichen wir das Gelände, auf dem das Nova-Festival stattgefunden hat. Zwei Soldatinnen sitzen am Eingang und weisen uns den Weg zum Ort des Massakers. Das Festivalgelände ist nun ein Gedenkort, der von Hinterbliebenen und Helfer*innen gestaltet wurde. Die Regierung hat sich darum nicht gekümmert.
Als wir aussteigen, merken wir die sengende Hitze. Schweiß fängt an, an uns hinunterzulaufen, Fliegen umkreisen surrend unsere Köpfe. Wir sprechen kaum miteinander, sondern gehen in Richtung der hier aufgestellten Schilder mit Fotos der Ermordeten und Entführten. Ein Lageplan zeigt, dass sich an der Stelle, auf die wir gerade zulaufen, die Tanzfläche des Festivals befand. Plötzlich hören wir einen lauten Knall. Es klingt, als wäre etwas Massives abgeschossen worden. Der Boden vibriert und der Schall durchdringt unsere Körper. Woher dieser Knall kommt, können wir nicht verorten. Angst steigt in uns hoch. Die Grenze zum Gazastreifen ist immerhin nur fünf Kilometer entfernt. Völlig panisch halten wir Ausschau nach Dans Vater. Wir erblicken ihn und er gibt uns zu verstehen, dass diese Geschosse nicht uns, sondern Zielen im Gazastreifen gegolten haben, wir in Sicherheit sind. Im Falle eines Raketenbeschusses, sagt er, würde eine Sirene ertönen und wir müssten zu den hier neu errichteten Bunkern rennen. Das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome funktioniert hier nicht, da wir uns zu nah an der Grenze zum Gazastreifen befinden. Von dort aus könnten Raketen den Ort des Festivals in zehn Sekunden erreichen. Erst jetzt wird uns richtig bewusst: Wir sind nicht nur am Ort des barbarischen Massakers, sondern bekommen auch dessen Folge mit, den Krieg im Gazastreifen.
Wir gehen weiter zur Tanzfläche. Die Gesichter der Toten und Geiseln schauen uns an. Die meisten sind sehr jung, viele unter 30. An einigen Bildern hängen persönliche Gegenstände oder andere Objekte, die an die Ermordeten und Entführten erinnern sollen. Manche Gesichter erkennen wir wieder. So wie das der 23-jährigen Shani Louk. Aufnahmen von ihr, wie sie regungslos und sichtlich blutend auf der Ladefläche eines Geländewagens von Gaza verschleppt wurde, während die Hamas-Terroristen um sie herum »Allahu Akbar« (Gott ist groß) schrien und auf sie spuckten, hatten sich nach dem Massaker rasch in den sozialen Medien verbreitet. Shani Louk starb, auch wenn zunächst von ihrer Geiselnahme ausgegangen wurde, direkt am siebten Oktober. Auch Hersh Goldberg-Polin erkennen wir wieder. Die Hamas hatte den 23-Jährigen am siebten Oktober als Geisel nach Gaza verschleppt. Seine Eltern Rachel Goldberg-Polin und Jon Polin hatten sich seit seiner Entführung unermüdlich für die Freilassung aller Geiseln und eine Waffenruhe eingesetzt, waren öffentlich aufgetreten, um auf die israelische und internationale Politik einzuwirken. Zu dem Zeitpunkt, als wir das Gelände besuchen, lebt Hersh Goldberg-Polin noch. Wir können nicht wissen, dass er nur gut einen Monat später von der Hamas in Rafah ermordet werden wird, nach 330 Tagen in Geiselhaft.
Ein fragiles Versprechen
Ich, Dan, verspüre tiefe Trauer um die Opfer und Sorge um die verbliebenen Geiseln. Ein Gedanke lässt mich nicht los: »Sie sind nur gestorben, weil sie Juden und Jüdinnen waren. So wie ich. Sie sind gestorben, weil sie Israelis waren und zu diesem Ort kamen, um ausgelassen zu feiern, so wie ich selbst es schon mehrere Male hier getan habe.«
Während wir uns die Bilder ansehen, hören und spüren wir immer wieder dieses erschütternde Knallen. Alle paar Minuten schrecken wir auf, bekommen Angst, schauen uns um, ob es nicht doch eine Rakete war, die in unsere Richtung geschossen wurde, während wir das hier Geschehene versuchen zu begreifen. Auf dem Boden sehen wir an einigen Stellen Überbleibsel des Festivals. Kopfhörer liegen dort, wo einst der Campingplatz war. Hat sie jemand auf der Flucht verloren? Wem gehört das Campingbesteck, das hier im Staub zurückgelassen wurde? Ist diese Person noch am Leben?
Neben uns bleibt eine Familie vor einem der Bilder stehen. Die Tochter, etwa 20 Jahre alt, bricht vor dem Bild zusammen. Wir hören sie zu ihrer Familie sagen: »Das ist meine Freundin.«
Ein Meer an Bildern der Toten und Entführten erstreckt sich von der ehemaligen Tanzfläche bis hin zu dem Teil des Geländes, auf dem die Zelte der Festivalbesucher*innen gestanden haben. Die Lage der einzelnen Schilder zeigt scheinbar an, wo die Menschen jeweils entführt oder ermordet worden sind. Einige Bilder der Verstorbenen befinden sich dem Lageplan zufolge auf dem ehemaligen Parkplatz des Festivals. Es scheint, als hätten sie hier ihr Leben verloren, als sie panisch versuchten, zu ihren Autos zu gelangen und zu fliehen. Es ist schwer, die Trauer und die Tränen auszuhalten, die uns überkommen, während wir an diesem Ort des Verbrechens stehen, immer wieder mit Flashbacks an die Aufnahmen vom siebten Oktober, die wir aus den sozialen Medien kennen.
Ich fange an zu fotografieren. Ich möchte alles festhalten, was hier passiert ist. Getrieben von der Wut, die sich in die Trauer mischt, denke ich an das Fusion-Festival, das gerade erst in Deutschland stattgefunden hat. Ich denke daran, wie die Menschen dort unbeschwert gefeiert haben. Und daran, wie sich ein Musiker auf der größten Bühne des Festivals darüber beschwerte, dass dem Leid von Palästinenser*innen zu wenig Raum gegeben werde, während »israelsolidarische Antideutsche« die Veranstaltung stören würden. Es gebe keinen »Safe Space« (sicheren Raum), sagte er. Durch die Bilder, die ich mache, und die Erzählungen darüber will ich Menschen zeigen, was es wirklich bedeutet, keinen »Safe Space« beim Feiern zu haben. Ich sehe meinen Vater weiter hinten stehen, weinend. Mein Vater, der selbst in zwei Kriegen gekämpft hat, unter anderem dem Jom-Kippur-Krieg, wirkt sichtlich erschüttert. Ich merke, dass es sich hier um einen Ort handelt, der Israelis klarmacht, dass sie sich trotz des Versprechens, das Israel seinen Bürger*innen gegeben hat, in diesem Land nicht sicher fühlen können. Es war das Versprechen, nie wieder Opfer zu werden. Dieser Ort hat es in seinen Grundfesten erschüttert.
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Gerade als wir uns auf den Rückweg machen wollen, fährt ein Bus vor. Eine Gruppe amerikanischer Jüdinnen*Juden steigt aus. Sie treffen hier einen Überlebenden des Festivals. Wir hören zu, wie er ihnen schildert, was in der Nacht vom sechsten auf den siebten Oktober geschah: Wie die Menschen tanzten und feierten, nicht ahnend, dass sich der Albtraum bereits anbahnte. Erst als die ersten Schüsse fielen, begriffen sie, dass etwas Furchtbares geschah. Panik brach aus, Menschen flohen oder versteckten sich, nur um schließlich von der Hamas aufgespürt und getötet zu werden. Er erzählt, wie er selbst versuchte, mit seinen Freund*innen zu fliehen, sobald sie Schüsse hörten und begriffen, dass sie ihnen galten. Wie auf ihr Auto geschossen wurde und sie an blutverschmierten und maskierten Männern vorbeifuhren. Sich schließlich retten können. Während er erzählt, hören wir erneut einen lauten Knall. Auch der Gruppe ist anzumerken, dass sie nicht darauf vorbereitet war. Der Überlebende sagt zu ihnen: »No worries, it’s us at them« (Keine Sorge, das sind wir, die auf sie schießen). Er scheint es zur Beruhigung zu sagen, und doch schwingt auch Erleichterung in seiner Aussage mit. Darüber, dass nun nicht mehr sie, die Israelis, diejenigen sind, die um ihr Leben fürchten müssen.
Die richtige Antwort?
Ich, Maren, merke, an diesem Ort stehend und den Schilderungen des Überlebenden lauschend, wie auch in mir Wut aufkommt über das, was geschehen ist, über die Grausamkeit, mit welcher die Hamas hier vorgegangen ist, unschuldige Menschen aus ihrer Ausgelassenheit herausgerissen, sie wahllos ermordet hat. Aber auch darüber, wie der Staat Israel so sehr versagen konnte. Sie haben es nicht mitbekommen, weil die rechte Regierung vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. So viele Leben wurden deshalb beendet. Ich frage mich auch, ob dieser nun schon fast ein Jahr anhaltende Krieg in Gaza – mit über 40 000 Todesopfern, darunter viele Terroristen der Hamas, aber auch ein großer Anteil von Zivilist*innen – tatsächlich die richtige Antwort auf dieses Massaker sein kann. Ob so wirklich das Ziel erreicht werden kann, in Sicherheit, gar in Frieden miteinander leben zu können.
Wir steigen ins Auto. Dieser Ort und das Knallen lassen sich nicht länger ertragen. Kurz hinter dem Gelände sehen wir Reifenspuren von panisch umherfahrenden und bremsenden Autos auf der Straße, Spuren von Autos, die in Gräben gefahren sind und Stellen, an denen der Asphalt durch brennende Autos geschmolzen war. Uns begegnen noch einige weitere Bilder von Menschen, die an dieser Stelle – sichtlich auf der Flucht – tot aufgefunden wurden. Wir sitzen schweigend im Auto, niemand von uns ist bereit, jetzt schon über das Gesehene zu sprechen. Während wir uns von dem Ort entfernen, läuft im Radio »Tears dry on their own« von Amy Winehouse.
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