Filmfest Hamburg 2024: Sie zeigt Mut

Die erste Ausgabe des Filmfests Hamburg unter der neuen Leitung von Malika Rabahallah war ein kraftvolles Fest des Kinos.

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 6 Min.
An zehn Festivaltagen teilte die neue Leiterin Malika Rabahallah nicht nur ihre Liebe zum Kino, sondern auch zu Frankreich.
An zehn Festivaltagen teilte die neue Leiterin Malika Rabahallah nicht nur ihre Liebe zum Kino, sondern auch zu Frankreich.

Nach 21 Jahren löst Malika Rabahallah Albert Wiederspiel als Leitung des Hamburger Filmfests ab. Bei ihrer ersten Festivalausgabe setzte sie auf Highlights von Festivals wie Cannes, Venedig, Locarno oder auch Toronto, von 124 Filmen und Serien waren 43 Filme von Frauen.

An insgesamt zehn Festivaltagen teilte Rabahallah nicht nur ihre Liebe zum Kino, sondern auch zu Frankreich, präsentierte Neulinge (27 Debüts) wie auch Altmeister des Kinos gleichermaßen. Der Eröffnungsfilm, Louise Courvoisiers »Könige des Sommers«, ist ein Debüt ganz ohne Stars. Die Tragikomödie handelt von einem 18-Jährigen, der aufgrund eines Trauerfalls den Hof seiner Eltern und die Obhut seiner siebenjährigen Schwester übernimmt. Es riecht nach Heu und Comté-Käse.

Passenderweise gab es bei der Eröffnung des 32. Filmfests einen Stand, um diesen Käse zu verkosten. Man spürt, wie gerne Rabahallah ihre Begeisterung weitergibt. Das ist nicht nur mit Käse so. Mit dem Tag des freien Eintritts am Tag der Deutschen Einheit hat sich die Filmfestchefin einen Traum erfüllt. Dass sie Jacques Audiard mit dem französischen Oscar-Beitrag »Emilia Pérez« nach Hamburg geholt hat, ist ein anderer.

Audiard bekam am ersten Festivalsamstag den Douglas-Sirk-Preis. In der Laudatorenrede für Audiard beschrieb »Jacques-Audiard-Fanboy« Fatih Akin so präzise Audiards Lebenswerk, dass er den Regisseur verlegen machte: »Wenn ich dich so höre, dann würde ich sagen, Jacques Audiard hat uns zu früh verlassen.« Er wolle schon noch weitere Filme machen. Mit seinem zehnten Film »Emilia Pérez«, diesmal ein Musicaldrama, gelingt Audiard eine mitreißende Geschichte über einen mexikanischen Drogenboss, der sich als Frau (Karla Sofía Gascón) seinen Taten stellt. Zoe Saldana brilliert als Anwältin Rita nicht nur in den kraftvollen Tanzszenen.

Regisseurin Andrea Arnold, die mit »Bird« ein starkes Unterschichtsdrama mit märchenhaften Elementen erzählt, wurde wie Audiard mit dem Douglas-Sirk-Preis geehrt. Chiara Fleischhacker, die mit ihrem Spielfilmdebüt »Vena« schon jetzt große Wellen schlägt, lobte am Mittwochabend in ihrer Laudatio die »Königin des Kinos«. Arnold bringe jeder einzelnen Figur die »pure Wertschätzung« entgegen. Da Arnold statt in Hamburg krank zu Hause in England lag, fand die Preisverleihung ohne sie statt, wurde aber für sie aufgezeichnet. Arnolds Dankesrede wurde am Ende der Preisverleihung vorgelesen.

Dass Fleischhacker die Laudatio gehalten hat, ist ein Geniestreich von Rabahallah. Sie verbindet damit zwei Frauen, die Schmerz in Kunst zu verwandeln wissen. Fleischhackers Spielfilmdebüt »Vena« (benannt nach der Nabelschnurvene) über eine Crystal-Meth-abhängige Schwangere (eindringlich gespielt von Emma Nova) bekam nach dem Thomas-Strittmatter-Preis für das beste Drehbuch (2022) unter anderem den First Steps Award (in Berlin) und den Hamburger Produktionspreis für Deutsche Kinoproduktionen. Die Geburt, die im Film gezeigt wird, ist das Reenactment einer realen Geburt.

Ohnehin finden sich im Programm des Filmfests einige Filme mit starker weiblicher Perspektive. Carly May Borgstroms »Spirit in the Blood« ist ein Film über weibliche Selbstermächtigung aus der Sicht einer Gruppe von Mädchen. Fleur Fortuné entwickelte mit »The Assessment« eine dystopische Parabel über all die Qualen, denen sich Paare mit einem unbedingten Kinderwunsch aussetzen. Beide sprachen am vergangenen Donnerstag gemeinsam mit Katrin Gebbe (»Pelikanblut«) auf einem Panel über weibliche Perspektiven im internationalen Genrefilm. Sie diskutierten darüber, warum ein Film wie Jonathan Glazers »Birth« mit Nicole Kidman gefloppt ist. Vielleicht wäre das perfekte Bild von Nicole Kidman damit zerstört worden, so Fortuné. Alle drei forderten mehr Offenheit für neue Rollen, Stoffe und Genreüberschreitungen.

Déa Kulumbegashvili zeigt Mut mit dem Drama »April« über eine Frauenärztin, die heimlich Abtreibungen durchführt. Sie arbeitet mit dem Soundkünstler Matthew Herbert zusammen, der Unbehagen in Klang übersetzt. Besonders polarisiert David Cronenbergs Bodyhorror-Thriller »The Shrouds«, in dem die Hauptfigur Karsh (Vincent Cassel) Menschen ermöglicht, am Bildschirm den Verwesungsprozess von Verstorbenen zu verfolgen. Karsh nutzt das Angebot selbst. Diane Kruger spielt die verstorbene Ehefrau, ihre Schwester und einen Avatar. Im Publikumsgespräch bezeichnete sie die Arbeit an »The Shrouds« als Highlight ihrer Karriere. Cronenberg verarbeitete mit dem Film den Tod seiner Frau.

Ein Highlight des Filmfests war die Deutschland-Premiere des deutschen Oscar-Beitrags »Die Saat des heiligen Feigenbaums« des iranischen Filmemachers Mohammad Rasoulof, in dem ein von Paranoia geplagter Richter seine Töchter verdächtigt, seine Dienstwaffe entwendet zu haben. Auch Ali Samadis Drama »Sieben Tage« über die Teheraner Widerstandskämpferin Maryam (Vishka Asayesh), die ihre Kinder ein letztes Mal sehen möchte, bevor sie wieder ins Gefängnis zurückkehrt, stammt aus Rasoulofs Feder. Eine starke Szene: Wäre sie ein Mann, würde sie als Held gefeiert werden, als Frau sei sie deswegen eine schlechte Mutter. Das Publikum applaudiert spontan. Einige denken an die Menschenrechtlerin Narges Mohammadi. Women, Life, Freedom.

Dass politische Filme auch Spaß machen können, zeigt Rich Peppiatts temporeiches Drama »Kneecap« über einen Musikschullehrer in Belfast, der gemeinsam mit feierwütigen Iren eine gälisch rappende HipHop-Band gründet. Seine Freundin kämpft währenddessen um den Erhalt der irischen Sprache. Der Regisseur lernte erst durch die Arbeit an dem Film Gälisch, die Band gibt es wirklich.

Ungewohntes Terrain beschritten Michel Hazanavicius und Thomas Vinterberg. Der dänische Filmemacher präsentierte mit der Familiensaga »Families Like Ours«, seine erste Serie, in der aufgrund einer drohenden Flut Dänemark evakuiert wird. Eigentum und Geld haben plötzlich einen anderen Wert. Als Vinterberg vor sieben Jahren das Drehbuch schrieb, gab es keine Corona-Pandemie und keine Lockdownpläne.

All sein Herzblut legt Michel Hazanavicius in seinen ersten Animationsfilm »Das kostbarste aller Güter« über ein kinderloses Ehepaar, welches das Baby eines nach Auschwitz deportierten Paares findet. Jean-Claude Grumberg, der Autor des gleichnamigen Jugendbuchs, ist ein Freund der Familie. Hazanavicius wollte eigentlich nie einen Film über den Holocaust machen.

Aufatmen konnte man bei Alice Lowes schwarzhumoriger Komödie »Timestalker«, in der eine Frau über Jahrhunderte wiedergeboren wird, weil sie sich in den falschen Mann verliebt. Besonders bemerkenswert ist Luis Ortegas »Kill the Jockey«, der mit magisch-realistischen Bildern ganz nebenbei Geschlechtergrenzen überschreitet. Sean Bakers Tragikomödie »Anora« hingegen räumt mit dem Cinderella-Mythos auf: Eine Stripperin heiratet überstürzt einen russischen Oligarchensohn, dann kommen seine Aufpasser ins Spiel.

Mit Pedro Almodovars »The Room Next Door« mit Julianne Moore und Tilda Swinton schloss das Filmfest am Samstag. Die Drei erschienen zwar nicht, aber in zehn Tagen kamen insgesamt 312 Gäste aus 29 Ländern. Am Ende waren auch die Filme große Stars – und Malika Rabahallah, die in ihrer ersten Festivalausgabe ein sehr gutes Händchen für Menschen, Situationen und Filme bewiesen hatte.

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