Albträume vom Rasiermesser

Javier Espadas Doku »Buñuel« ist ein gelungener Lehrfilm in Sachen Surrealismus

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
»Die bürgerliche Moral ist für mich Unmoral, die man bekämpfen muss«, meinte Luis Buñuel.
»Die bürgerliche Moral ist für mich Unmoral, die man bekämpfen muss«, meinte Luis Buñuel.

Es gibt Dinge, die ich einfach nicht sehen will. Dazu gehört jene berühmt-berüchtigte Szene aus Luis Buñuels »Der andalusische Hund« von 1929, in der ein Rasiermesser durch ein weit geöffnetes Auge schneidet. Auch Javier Espada zitiert diese Szene in seiner Dokumentation mehrfach – und immer, wenn ich ahne, was nun kommt, schließe ich meine Augen. Doch zumeist öffne ich sie dann genau in dem Moment wieder, in dem passiert, was ich absolut nicht sehen wollte.

Buñuel zelebriert den Akt der Zerstörung auf befremdliche Art. Das eben ist das Schockierende am Surrealismus und seiner Albtraumrealität. Inmitten einer Welt, in der uns Bilder von Tod und Zerstörung überfluten, wir unweigerlich abstumpfen, hält dieser den Schmerz wach, den die Gewalt verursacht. Dies ist die Geburtsstunde der »Ästhetik des Schreckens«, die mitten aus unserem Alltag ersteht.

Luis Buñuel, 1900 im spanischen Calanda geboren, wurde geprägt vom dunklen Katholizismus und der bigotten bürgerlichen Kleinstadtatmosphäre seiner Heimatstadt, die er hasste. Sein Vater war Großgrundbesitzer, aber sein geistiger Horizont war klein. Diese bedrückende Enge, der Starrsinn und die Arroganz der Oberschicht der spanischen Provinz haben Buñuels Filme über ein halbes Jahrhundert lang geprägt, bis zu seinem Tod 1983.

Eine so dicht gearbeitete Dokumentation, wie sie Javier Espada mit »Buñuel« vorlegt, sieht man heute nicht mehr oft. Espada stammt wie Buñuel aus Calanda, sein Geburtshaus stand, so sagt er, nicht weit weg von dem des Regisseurs. Die »abwesende Präsenz« Buñuels habe auf ihn einen so starken Sog ausgeübt, dass er sich lebenslang mit dessen Biografie und Werk beschäftigte, sogar 15 Jahre das Buñuel-Museum leitete. Er sagt, seine jahrelangen Forschungen über Buñuel seien in den Film eingeflossen. Klingt gefährlich, ein Film von Experten für Experten? Nein, das ist er zum Glück nicht geworden – obwohl man diese Art Filmbiografie nicht anders als »kompakt« bezeichnen kann. Ein gelungener Lehrfilm in Sachen Surrealismus unter besonderer Berücksichtigung der Stellung Buñuels in diesem und speziell von »Der andalusische Hund« – und darin der besagten Rasiermesserszene als ikonografischem Moment des 20. Jahrhunderts. Sollte man Rasiermesser nicht verbieten oder wenigstens eine Art Waffenschein dafür fordern, denn sie sind – wie hier zu sehen – unzweifelhaft gefährlich? Aber eine Kunst, wie sie Buñuel und die anderen Surrealisten favorisierten, sollte genau das sein: gefährlich.

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Der Surrealismus, den Buñuel – zusammen mit Salvador Dalí, Max Ernst und André Breton (der dann ein sich selbst ad absurdum führendes »Manifest des Surrealismus« schrieb) – erfand, ist natürlich nicht wirklich neu, sondern montiert bestimmte vorhandene Ideen auf überraschende Weise. So das Traummotiv, das den Realitätsbegriff okkupiert hat. Die Technik des automatischen Schreibens (des Unbewussten im Schöpfungsakt) wird hier auf den Film übertragen. Erzählen ist dabei ein Spiel mit lauter Paradoxen, die nur ein Ziel haben: eine Gegenwelt zur herrschenden Welt zu schaffen. Die herrschende Vernunft ist in Wahrheit pure Unvernunft, das Gegenteil dessen, wofür sie sich selbst hält.

Javier Espadas »Buñuel« ist reich an Dokumentarmaterial, das vor Augen führt, wie radikal die Surrealisten mittels Kunst die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen brachten. Es ist ein absurdes Spiel, das befreiend wirkt, weil es aufhört, den falschen Idealen zu folgen. Buñuel hat das in eine legendär gewordene Formulierung gebracht: »Die Welt wird immer absurder. Nur ich bin weiter Katholik und Atheist. Gott sei Dank.« Diese Äußerung des einstigen Jesuitenschülers und Pariser Avantgardekünstlers ist ernst gemeint, denn er kann das eine (Katholik) nicht sein ohne das andere (Atheist). Ein überaus fruchtbarer Widerspruch, aus dem er lebenslang schöpfte.

Das Erstaunliche an dem umfangreichen filmischen Epos Buñuels, das sich zudem über mehrere gesellschaftliche Systeme erstreckt, ist das Zugleich von höchstem philosophischen Anspruch und mitunter derber Unterhaltung, oft auch schwarzem Humor. »Der andalusische Hund« und der Nachfolgefilm »Das goldene Zeitalter« (beide mit Salvador Dalí) sind keine filmischen Traktate über Eros und Thanatos (Lebens- und Todestrieb nach Sigmund Freud) für eine kleine Minderheit, sondern immer aktionsreiche Filme für alle, die die Katastrophe des lächerlichen Menschen in einer ihm feindlichen Welt zeigen. Buñuel nimmt sich da nicht aus, sitzt nicht über die verhassten Kreaturen zu Gericht, sondern mit ihnen in der Falle.

Der Gestus der Prozession, der die vom Katholizismus geprägte spanische Kultur durchzieht, findet sich auch in Buñuels Filmen, nur hier mit einem blasphemischen Vorzeichen. So in »Das goldenen Zeitalter« (1930), in der eine Gruppe Bischöfe sich in Skelette verwandet. Statt der Bischöfe sehen wir nun Banditen eine Orgie abhalten, ganz im Stile von de Sade. Die letzte Einstellung des Films zeigt ein Kreuz, an das die Skalps der während des sexuellen Exzesses getöteten Mädchen genagelt sind. Man kann sich den Skandal vorstellen, den der Film nicht nur in Spanien auslöste. Buñuel dazu: »Die bürgerliche Moral ist für mich Unmoral, die man bekämpfen muss.« Das zielt bei ihm auf die morschen Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft, die ihm zufolge ein einziges Lügengebäude ist. Doch der vordergründig sozialkritische Gestus wird vermieden: Alles folgt hier einer rein assoziativen Logik der Bilder.

Die moderne Hölle, die Buñuel immer wieder zeigt, kommt als Party für die Schönen und Reichen daher. Und doch weht da immer ein Hauch von Hieronymus Boschs »Garten der Lüste« und Francisco de Goyas »Caprichos«. Böse Einfälle, wie sie ein Biedermann hat, wenn er schlecht träumt. »Der Würgeengel« (1962) und »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« (1972) folgen einer ähnlichen Versuchsanordnung, die für Buñuel typisch ist. Es hat etwas vom Letzten Abendmahl Jesu, oder auch von Platons Dialogen bei Gastmahlen, in denen es immer darum geht, dass diejenigen, die vorgeben, Experten in einer Sache zu sein, am wenigsten davon wissen.

Die gehobene Gesellschaft versammelt sich, aber es liegt offenbar ein Fluch auf ihr. So in »Der Würgeengel«, noch in Schwarz-Weiß gedreht. Man trifft sich nach der Oper im luxuriösen Privatsalon einer der Stützen der Gesellschaft, die Köche und Kellner haben ein Diner vorbereitet. Doch seltsamerweise verlassen diese fast alle fluchtartig vor Beginn des Empfangs das herrschaftliche Anwesen. Drinnen ist man bester Laune, man trinkt, isst und musiziert, irgendwann wollen die ersten Gäste nach Hause gehen – aber können den Raum nicht mehr verlassen.

Eine klaustrophobische Szenerie. Die Eingesperrten beginnen schließlich, zu hungern und zu dursten, attackieren sich gegenseitig. Es gibt die ersten Toten – dann löst sich der Fluch plötzlich. Die wundersam Befreiten wohnen einem Dankgottesdienst bei – und schon wiederholt sich die Zeitstillstellung, sie bleiben Eingesperrte. Und draußen, vor den Kirchentüren, tobt ein Bürgerkrieg.

Buñuel wird zum Apokalyptiker des Bürgertums unter besonderer Berücksichtigung des spanischen Katholizismus. Davon ist auch »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« beherrscht (bereits in Farbe). Wieder sehen wir die um einen Tisch versammelte gute Gesellschaft, die in Chaos versinkt. Diesmal jedoch dringt der Terror mitsamt Maschinenpistolen ganz offen in die Privatsalons ein. Es ist eine Farce, aber eine mit unaufklärbaren somnambulen Anklängen.

Der spanische Bürgerkrieg traf Buñuel außer Landes und verhinderte weitere Filmdrehs. Er war gerade in den USA, erst in Hollywood, dann in New York, wo er im Museum of Modern Art angestellt wurde. 1946 erhielt er das Angebot aus Mexiko, künftig dort seine Filme zu produzieren. Schließlich drehte er etwa 20 Filme in Mexiko. Doch von seinen spanischen Wurzeln kam Buñuel nicht los, auch das zeigt Javier Espada in seinem klugen, vielleicht eine Spur zu didaktischen Film. Aber dass er nicht den Fehler begeht, selbst einen surrealistischen über den Surrealisten Buñuel zu drehen, war wohl eine richtige Entscheidung.

Nur in Spanien fand Buñuel seine Gegner und die Kraft, es mit ihnen aufzunehmen, gleichermaßen. Seine Filme haben alle die Schärfe von Rasiermessern – doch nie vordergründig, sondern in einer ins Aberwitzige gewendeten mythischen Bildsprache, die nicht veraltet.

»Buñuel – Filmemacher des Surrealismus«: Spanien 2021. Regie und Buch: Javier Espada. 83 Min. Kinostart: 10. Oktober.

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