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Kreml hadert mit Abtreibungen

In Russland fordern rechte Kreise Gesetzesverschärfungen

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Schwangere wird im Moskauer Filatow-Krankenhaus untersucht.
Eine Schwangere wird im Moskauer Filatow-Krankenhaus untersucht.

Vier maskierte Männer in Uniform posieren mit Waffen in Schützengräben. Einer von ihnen hält eine Rede, die an eine Duma-Abgeordnete gerichtet ist. Der Inhalt: Die Kämpfer der »Spezialoperation« würden ihr Blut für die »Zukunft der eigenen Kinder« vergießen, nicht aber für die Zukunft von Migranten, »die uns ersetzen werden«. Sie fordern einen gesetzlichen Schutz für »ungeborene russische Kinder« und kündigen an, »Mörderärzte« – ein Begriff aus der antisemitischen Kampagne der späten Stalinzeit – zur Rechenschaft zu ziehen. Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, seien noch gefährlicher als das »ukrainische Vieh« und die »Söldner«, gegen die man derzeit kämpfe. Das Video wurde Mitte Oktober von der rechtsextremen Organisation »Russische Gemeinschaft« (Russkaja Obschina) im Internet verbreitet.

Die seit 2020 aktive paramilitärische »Russische Gemeinschaft« erlebt derzeit einen Aufschwung: Die Aktivisten gehen gemeinsam mit Polizisten auf Patrouille und machen Behörden auf illegal eingereiste Migranten, LGBT-Veranstaltungen und andere vermeintliche Verstöße gegen »traditionelle Werte« aufmerksam. Der Staat geht ebenfalls mit Repression gegen alles vor, was er als Angriff auf seine Werte betrachtet: Mitte Oktober beschloss die Duma ein Verbot der »Propaganda« einer angeblichen »Childfree-Bewegung«, in Schulen finden Präventionsveranstaltungen gegen »Quadrobics«, eine in Mode gekommene Jugendsubkultur, statt. Schwierig könnte es für die russische Führung allerdings beim Thema Abtreibung werden. Einerseits fordern verschiedene nationalistische und konservative Gruppen ein Verbot, andererseits zeigen alle Umfragen, dass dies eine sehr unpopuläre Maßnahme wäre.

Liberales Recht in Sowjetrussland

Sowjetrussland war der erste Staat der Welt, der 1920 den Schwangerschaftsabbruch legalisierte. Doch 1936 wurde wieder ein Verbot verhängt. Erst nach dem Tod von Josef Stalin erfolgte 1954 die Entkriminalisierung und ein Jahr später die Legalisierung. Im Jahr 1965 wurde mit 5,6 Millionen die höchste Zahl an erfassten Abtreibungen in der Geschichte des Landes erreicht. Da die Sowjetunion bei der Sexualaufklärung und beim Zugang zu Verhütungsmitteln weit hinter »Bruderstaaten« wie der DDR zurücklag, blieb der Schwangerschaftsabbruch eines der wichtigsten Mittel der Familienplanung. Im Jahr 1993 kamen auf 100 Geburten 235 Schwangerschaftsabbrüche, danach begann die Zahl allmählich zu sinken. Im Jahr 2007, auf dem Höhepunkt des durch den Ölpreisanstieg ausgelösten Wirtschaftsaufschwungs, überstieg die Zahl der Geburten erstmals seit den 1950er Jahren wieder die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche: Auf 100 Geburten kamen 92 Schwangerschaftsabbrüche.

Der »Kampf« gegen die geringe Geburtenzahl soll an der »sittlich-moralischen Front« gewonnen werden.

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Der Abwärtstrend bei den Abtreibungen hielt an, aber auch die Geburtenrate ging zurück. Forderungen nach einer Erschwerung oder einem Verbot des Schwangerschaftsabbruchs wurden zwar immer wieder erhoben, vom Kreml aber lange Zeit ignoriert. So hatte das postsowjetische Russland anfänglich eines der liberalsten Abtreibungsgesetze der Welt.

Schleichender Rückschritt

Erst in den 2010er Jahren begannen schleichende Veränderungen. Im Jahr 2013 wurden Informationsangebote über Schwangerschaftsabbrüche verboten. Ab 2016 begannen einzelne Regionen mit temporären Verboten. So durften etwa am Weltkinderschutztag keine Abtreibungen durchgeführt werden. In den vergangenen Jahren wurden die Forderungen von Kirchen und Lebensschutz-Gruppen immer lauter, Abtreibungen aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen.

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 fordern Politiker, rechte Aktivisten und Geistliche nun verstärkt weitere Einschränkungen. Der »Kampf« gegen die geringe Geburtenzahl soll an der »sittlich-moralischen Front« gewonnen werden, heißt es. Im Jahr 2023 wurden »Anstiftung zum Schwangerschaftsabbruch« und »Propaganda für den Schwangerschaftsabbruch« zunächst in der Republik Mordowien, kurz darauf auch in den Regionen Kaliningrad, Kursk und Twer unter Strafe gestellt. Bald darauf beendeten private Kliniken in mehreren Regionen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen. Walentina Matwejenko, Sprecherin des Föderationsrates, des Oberhauses der russischen Legislative, erklärte, dass es Ziel der Politik sein müsse, Abtreibungen nur noch bei medizinischer Notwendigkeit oder nach »Gewalttaten gegen Frauen« durchzuführen, ein generelles Verbot käme jedoch nicht infrage.

Mehrkindfamlie als Ideal

Im September 2024 erklärten die Behörden von 16 Regionen, dass schwangere Frauen dort beim ersten Arztbesuch eine »Unterstützungsmappe« erhalten. Neben Informationen über staatliche Unterstützungsleistern für Eltern enthalten diese Mappen auch einen Brief des Patriarchen Kirill, des Oberhaupts der Russisch-Orthodoxen Kirche, oder eines anderen hohen kirchlichen Würdenträgers mit einer »Ermutigung zur Mutterschaft«. Diese Texte sollen keine direkte Kritik an Abtreibungen enthalten, sondern über das »Wunder des neuen Lebens« informieren und auf die Hilfsangebote der Kirche für Mütter in schwierigen Lebenssituationen hinweisen. Ob auch Frauen anderer Konfessionen und Atheistinnen die Briefe des Patriarchen und seiner Metropoliten erhalten sollen, ist noch offen.

Parallel dazu werden weitere Maßnahmen diskutiert, um die Mehrkindfamilie als gesellschaftliches Ideal zu etablieren. Seit diesem Schuljahr wird in den Schulen das Fach »Familienkunde« unterrichtet. Immer mehr Politiker fordern zudem eine Steuer auf Kinderlosigkeit. Diese wurde in der Sowjetunion 1941 eingeführt und in der Russischen Föderation erst 1992 abgeschafft.

Dass ein Abtreibungsverbot für den russischen Staat zwar ein gewagter, aber keineswegs undenkbarer Schritt ist, zeigt der Auftritt der Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, Ende Oktober in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Dort sprach sie sich dafür aus, Abtreibung im Sprachgebrauch der Regierung als »Mord« zu bezeichnen. Anlass war eine Konferenz des christlich-monarchistischen Milliardärs Konstantin Malofejew zur Neugründung der Union des Russischen Volkes. Eine Organisation unter diesem Namen war in der Zarenzeit berüchtigt für die Mobilisierung sogenannter »Schwarzer Hundertschaften« zu Pogromen und zur Bekämpfung der revolutionären Bewegung. Auch die rechtsextreme »Russische Gemeinschaft« mit ihren Drohungen gegen »Mörderärzte« steht in Verbindung zu Malofejew – und in einer berüchtigten historischen Tradition.

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