Ist DDR-Literatur ein abgeschlossenes Sammelgebiet?

Wolfgang Emmerich begutachtet die Literatur der DDR

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.
Wolfgang Emmerich (l.) bei einer Diskussion »40 Jahre deutsch-deutsche Literatur – Versuch einer Bilanz« in der Akademie der Künste der DDR mit Christa Wolf und Jurek Becker, Juni 1990.
Wolfgang Emmerich (l.) bei einer Diskussion »40 Jahre deutsch-deutsche Literatur – Versuch einer Bilanz« in der Akademie der Künste der DDR mit Christa Wolf und Jurek Becker, Juni 1990.

Ein Staat, der wie die DDR 40 Jahre Bestand hatte, bis er in der westdeutschen Bundesrepublik aufging, verlockt Philatelisten, Zeitgeschichtler und auch Literaturhistoriker, ihn als abgegrenztes Sammelgebiet zu behandeln. Aber ist das korrekt? Was könnten die Erträge solch einer Betrachtungsweise sein?

Wolfgang Emmerich, 1941 in Chemnitz geboren, mit 17 Jahren in den Westen gegangen, mittlerweile emeritierter Professor für Literaturgeschichte und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen, gilt als Spezialist für die Literatur der DDR. Er weiß, dass sein »Sammelgebiet« schon während der vier Jahrzehnte der Existenz des ostdeutschen Staates an den Rändern ausfranste. Bei vielen Autorinnen und Autoren stellt er so etwas wie eine Kontinuität des Schreibens auch über das Ende der DDR fest, in der sie es – die einen mehr, andere weniger – zuweilen schwer hatten, ihre Texte zu veröffentlichen.

Emmerich bemüht sich um eine Antwort auf die Frage: »Was bleibt?« Er trifft dabei eine Auswahl, die von seiner eigenen Biografie beeinflusst ist. Die frühe Literatur der DDR wertet er als eine, die deren »Gründungsmythos« verpflichtet war. Antifaschismus und Sozialismus als Leitgedanken, Leitbegriffe und Vorgaben der Propaganda. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des ersten Jahrzehnts der DDR ordneten ihre Werke durchaus bereitwillig und überzeugt dem politisch und gesellschaftlich gewollten Grundkonsens unter. Warum auch nicht – nach den Verbrechen und Verheerungen der Nazis in Europa! Aber Emmerich konstatiert, dass dadurch keine Literatur habe entstehen können, die Anschluss an die im Westen bestehende Weltliteratur finden konnte. Joyce, Beckett, Kafka, Faulkner, Camus und Nabokov seien in der frühen DDR nicht opportun gewesen, behauptet er pauschal. Anders als im Westen sei der »Holocaust« in der DDR als literarisches Sujet, mit Ausnahme von Jurek Beckers »Jakob der Lügner«, gemieden worden. Irrtum, gleichwohl das Wort »Holocaust« nicht vorkam. In den KZ seien laut der literarischen Arbeiten in der DDR nur Kommunisten und Arbeiterführer gefoltert und ermordet worden. Auch nicht wahr. Erinnert sei zudem, dass dieser Kreis von Nazi-Opfern im Westen lange Zeit tabu war.

Seinen Befund über die frühe DDR-Literatur leitet Emmerich von theoretischen Grundlagen ab, die Michel Foucault und Karl Mannheim gelegt haben. Sie ordnen sich unter dem im Titel übersetzt verwendeten, vom russisch-sowjetischen Literaturtheoretiker Michail Bachtin entwickelten Begriff »Chronotopos« ein, also der sich summierenden Wechselwirkung von Ort und Zeit. Das alles ist gelehrt geschrieben. Aber was bleibt nun? Im zweiten Teil des Buches seziert der Autor unter dem Titel »Warum ausgerechnet das Alte Testament?« Stefan Heyms Roman »Der König David Bericht«. Hier macht er eine Korrespondenz zwischen biblischer und realsozialistischer Wirklichkeit aus. Ähnlich bei Heiner Müllers Antikenstücken: die griechischen Mythen als »Esperanto« der Allverständlichkeit. Ein Essay ist »Uwe Johnson contra Hermann Kant« gewidmet, zwei Analysen Günter de Bruyns »Liebesromanen« und Volker Brauns »Hinze-Kunze-Roman«. Schließlich kommt Emmerich in einer Kritik des Briefwechsels zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf auch auf die DDR-Lyrik zu sprechen, der er immerhin einen dauerhafteren Wert beimisst. Er stellt bei Christa Wolf einen gebliebenen Traum von einem nicht unterdrückenden Sozialismus als longue durée des Gründungsmythos fest, bekennt aber größere Sympathie für Sarah Kirschs konsequenten Abschied von eben diesem.

Wolfgang Emmerich: Am anderen Zeit-Ort. Literatur der DDR. Wallstein, 291 S., geb., 28 €.

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