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Dafür oder dagegen?
Wer Menschen aus der Armut holen will, muss den Kapitalismus bekämpfen, kommentiert Olivier David
Es ist nicht lange her, da hieß Klassenkampf in meinem Kopf bloß Kampf gegen Armut. Es ist ebenfalls nicht lange her, da hielt ich die Abschaffung von Armut für ein sinnvolles Ziel. Ist es das nicht mehr? Doch, aber mir kommen allmählich Zweifel an der Umsetzbarkeit von Konzepten auf, die Armut losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Kämpfen betrachten.
Der folgende Gedanke ist so abgetragen wie ein zerlöchertes Shirt, aber das macht ihn nicht weniger wahr: Alles hängt miteinander zusammen. Meine Depression getrennt von der Deregulierung des Arbeitsmarktes zu betrachten, ist so sinnlos, wie sich die Zähne ohne Zahncreme zu putzen. Gewiss, man unternimmt irgendetwas, aber das Problem bleibt bestehen.
Der Kapitalismus benötigt die Armut. Armut abschaffen zu wollen, ohne den Kapitalismus abzuschaffen, ist so, als würden wir sagen: Wir nehmen den Faschismus, aber wir nehmen ihn ohne Entmenschlichung. Armut ist die Bedingung für das Gelingen des Kapitalismus. Entmenschlichung ist die Voraussetzung für Faschismus wie für Kapitalismus gleichermaßen. Perfect match!
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Wenn wir uns anschauen, wie beinahe jeder, der den Kapitalismus fundamental infrage stellt, sofort für einen Feind der Demokratie gehalten und vom Verfassungsschutz überwacht wird, dann zeigt sich: Diese Demokratie in seiner derzeitigen Ausprägung benötigt den Kapitalismus, von dem wir wissen, dass er die Armut benötigt.
Wir werden also nicht an einem Gespräch über Ausprägung und den Gebrauchswert unserer Demokratie vorbeikommen. Das Wissen, um den Gebrauchswert und den Zustand der Demokratie, ist sozial situiert. Schnappatmung bei derlei Sätzen bekommen nur diejenigen, deren Angehörige nicht im Knast sitzen und deren Gesundheit nicht ausgebeutet wurde. Den Leuten aus meiner Klasse, die zehn oder fünfzehn Jahre früher sterben als der Durchschnitt, hilft es nicht zu wissen, dass sie wählen gehen können.
Das Problem mit dem Kampf gegen systematische Ungerechtigkeit ist die Selbsttäuschung: Wir bewerten unser Engagement in der Sache nicht anhand seiner Zielgenauigkeit, sondern wir messen den Aufwand, den wir betreiben. Ob die eigene Handlung aber etwas zum Guten gewendet hat, lassen wir zu häufig links liegen.
Während wir von der Politik ständig dazu aufgefordert werden, Widerspruch zu üben, gerät der Kampf für eine bessere Welt selbst unter Beschuss. Das ist eine objektive Funktion vom Klassenkampf von oben. Ich will die Notwendigkeit der Gegenwehr nicht absprechen, üben die Angriffe von oben doch Gewalt gegen Deklassierte aus. Und dennoch: Dafür und dagegen – das ist nicht dasselbe. Man kann aus einer bürgerlichen Ideologie heraus gegen Armut sein und gleichzeitig Menschenleben hierarchisieren, so wie wir es bewusst oder unbewusst beinahe alle machen.
Ich will meine Zeit, in der ich mich körperlich und psychisch fit genug fühle, nutzen, um für etwas zu sein. Es bedeutet, Diskurse um Armut mit anderen Kämpfen zu verbinden.
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