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Arbeitskämpfe und Arbeitslose

Fast 33 000 Menschen fordern zum 1. Mai in Berlin und Brandenburg höhere Löhne und »Finger weg vom Streikrecht«

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
11 000 Menschen gehen am 1. Mai in Berlin mit den Gewerkschaften auf die Straße.
11 000 Menschen gehen am 1. Mai in Berlin mit den Gewerkschaften auf die Straße.

Kurz vor dem Ziel schert die Trommlergruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft nach links aus und lässt die Demonstranten vorbeiziehen. Denn vor dem Roten Rathaus trommeln schon Kollegen der IG Metall. 11 000 Menschen sind am 1. Mai in Berlin vom Strausberger Platz zum Rathaus gelaufen. Selbst als die stellvertretende DGB-Bezirkschefin Nele Techen ihre Rede schon beendet und an Andrea Kocsis von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi übergibt, strömen noch mehr Menschen vors Rathaus. »Das ist ein super tolles Bild«, freut sich Kocsis bei diesem Anblick.

Sie ist Verdi-Vizebundeschefin. Kocsis erinnert an den 2. Mai 1933. Die Nazis stürmten damals die Gewerkschaftshäuser. Und heute? »Die AfD gewinnt bei jeder Wahl Sitze hinzu. Ihr strategisches Ziel ist ohne Zweifel, die parlamentarische Demokratie auszuhöhlen«, sagt Kocsis. Die AfD versuche, in Betrieben Fuß zu fassen und Belegschaften zu spalten. »Das dürfen wir nicht zulassen. Keine Handbreit den Faschisten.« Koscis beklagt, dass Arbeitgeber die Gewerkschaften zunehmend mit einstweiligen Verfügungen überziehen und Eingriffe ins Streikrecht fordern. Ein Arbeitgeberverband habe dazu sogar schon einen Gesetzentwurf fertig ausformuliert. Kocsis fordert: »Finger weg vom Streikrecht!«

An der Spitze der Demonstration sind die Landesspitzen der einzelnen DGB-Gewerkschaften gelaufen. Zwei Reihen dahinter lief der Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser (Linke). Er gehört gleich zwei Einzelgewerkschaften an: Der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, für die er sich einst schon als Student engagierte, und der IG Metall, für die später als Gewerkschaftssekretär tätig war. Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) ist von Beginn an bei der Demonstration, reiht sich aber erst kurz vor dem Roten Rathaus ganz vorn mit ein.

Die Linke bildet einen eigenen, recht großen Marschblock. Mit dabei die Landesvorsitzende Franziska Brychcy, Abgeordnetenhausfraktionschef Tobias Schulze und die Ex-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch. Gesine Lötzsch verteilt bei der Gelegenheit Handzettel, die auf das traditionelle Lesen gegen das Vergessen hinweisen. Es soll am 10. Mai von 15 bis 17 Uhr auf dem Bebelplatz wie jedes Jahr an die Bücherverbrennung von 1933 erinnert werden. Schauspieler wie Carolin Haupt und Schriftsteller wie Ingo Schulze werden aus Texten lesen, die 1933 von den Nazis in die Flammen geworfen wurden. Dieses Jahr organisiert Lötzsch das Lesen gegen das Vergessen noch ein letztes Mal. Nächstes Jahr soll eine andere Genossin das übernehmen. Der Kleine Buchladen aus dem Karl-Liebknecht-Haus werde am 10. Mai auf dem Bebelplatz noch einmal einen Stand haben, kündigt Lötzsch an. Es wird ein Abschied. Nach 35 Jahren muss dieser Buchladen aufgeben und von Inhaber Wanja Nitzsche abgewickelt werden. Das bedauert Lötzsch, die zu den Stammkunden gehörte. Die Ende Mai bevorstehende Schließung macht sie traurig.

Fröhlich geht es derweil hinter dem Lautsprecherwagen der DGB-Jugend zu. Dröhnende Techno-Rythmen, als »megageile Mucke« bezeichnet, sorgen für ausgelassene Stimmung. Vom Lautsprecherwagen ruft eine Frauenstimme: »Heute ist kein Arbeitstag, heute ist ...« Die Menge vervollständigt im Chor: »Streiktag.« Oder die Frau gibt als Losung vor: »Alle Leute wissen schon.« Die DGB-Jugend skandiert: »Ohne Kampf kein höherer Lohn!«

Zu kämpfen haben insbesondere auch die 3500 Beschäftigten der Charité Facility Management (CFM), einer Tochterfirma der Universitätsklinik Chartité. »Wir bewegen tagtäglich Tonnen. Wir bringen das Essen auf die Stationen, die Blutkonserven in den Operationssaal«, berichtet einer, der dort als Dispatcher arbeitet. »Was bekommen wir dafür? Einen Hungerlohn!« Berufsanfänger würden mit 1400 Euro netto im Monat abgespeist. Seit drei Jahren verspreche der Berliner Senat, die ausgegliederte CFM in die Charité zurückzuführen. Damit würden die Leute wieder nach dem Tarif für den öffentlichen Dienst (TVÖD) bezahlt werden. Doch nichts sei geschehen. Dieses gebrochene Wahlversprechen würden sich die 3500 Beschäftigten und ihre Angehörigen für die Abgeordnetenhauswahl im kommenden Jahr merken. Nicht von ungefähr wird dann am Roten Rathaus gerufen: »TVÖD für alle an der Spree!«

Anders als im vergangenen Jahr gibt es diesmal keine Konflikte wegen palästinensischer Fahnen. Man hat sich im Vorfeld darauf verständigt, dass überhaupt keine Nationalflaggen mitgebracht werden sollen. Eine einsame chilenische Fahne stört niemanden. Solidarität mit den Palästinensern wird mit um den Hals geschlungenen Tüchern bekundet oder durch Losungen auf Transparenten. Die Kommunistische Organisation (KO) fordert neben Frieden für Gaza auch Frieden mit Russland. »Verteidigungsfähig ja, aber nicht gegen Russland, sondern gegen den Kriegskurs der Nato!« So heißt es von der KO. Wer glaube, sich gleichzeitig gegen Nato und Russland stellen zu können, helfe damit nur der Nato, argumentiert ein Mitstreiter.

Wenige Schritte weiter tut genau das die Zeitschrift »Sozialismus von unten«. An ihrem Infotisch ist ein kleines Plakat befestigt, auf dem steht: »Weder Putin noch Nato! Butter statt Kanonen!«

Verteilt werden verschiedene Zeitungen, auch das »nd«. Gewerkschaftssekretärin Dorothea Katharina Ritter nimmt sich ein Exemplar und außerdem eine Pfeife mit dem nd-Logo. Beim ersten Ausprobieren stellt sich heraus, dass ihr roter Lippenstift nicht kussecht ist und auf die Pfeife abfärbt. Sie nimmt es mit Humor und schlägt lachend vor, die linke Tageszeitung müsste einen Lippenstift entwickeln, bei dem das nicht passiere – einen »Red stick«, vielleicht verbunden mit dem Werbeslogan »Rot muss bleiben«.

In Berlin und Brandenburg gibt es am 1. Mai verschiedene Veranstaltungen der Gewerkschaften mit zusammen fast 33 000 Teilnehmern. Bei einem Straßenfest in Strausberg tritt der Linke-Landesvorsitzende Sebastian Walter auf. Bereits im Vorfeld hat er erklärt: »Am 1. Mai und an jedem anderen Tag zeigen wir als Linke an der Seite der Gewerkschaften Flagge für jahrezehntelang hart erkämpfte Arbeitnehmer*innenrechte. Wir werden nicht zulassen, dass diese von der neuen Bundesregierung geschleift werden. Der Acht-Stunden-Tag bleibt. Der Mindestlohn muss auf 16 Euro steigen.«

Derweil bleibt in der Hauptstadtregion die übliche Frühjahrsbelegung auf dem Arbeitsmarkt aus und die Zahl der Arbeitslosen fast unverändert. Eigentlich hätten die Zahlen im April sinken müssen. Stattdessen waren 217 508 Berliner erwerbslos registriert und damit 17 195 mehr als vor einem Jahr. In Brandenburg stieg die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zu April 2024 um 4344 auf 86 402. In Berlin beträgt die Arbeitslosenquote jetzt 10,3 Prozent, in Brandenburg 6,4 Prozent. »300 000 Arbeitslose in der Region geben Anlass zur Sorge«, weiß Ramona Schröder, Regionaldirektionschefin der Arbeitsagentur.

»300 000 Arbeitslose in der Region geben Anlass zur Sorge.«

Ramona Schröder Arbeitsagenturchefin

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