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Elf Jahre Korrespondent: Aus Mönchengladbach nach Kiew
Gefährliche, beeindruckende und berührende Momente: Bilanz eines Journalisten, der seit 2014 in der Ukraine als Reporter tätig ist
Es gibt Momente, die gehen einem nicht aus dem Kopf. Der Morgen des 24. Februar 2022 war so einer. Es war etwas neblig, alles grau in grau. Der Wetterbericht hatte Schneeregen angekündigt. Bei Temperaturen leicht über null Grad drehte ich gerade meine Runden auf dem Sportplatz, als plötzlich irgendwas Graues über meinem Kopf hinwegzischte und im Grau der angrenzenden Häuser entschwand. Um Gottes willen, das war ja eine Rakete, die durch den Nebel schoss! Ich hatte nicht einmal Zeit, Angst zu bekommen, da kam eine Gruppe von Frauen über den Sportplatz gerannt. Sie riefen: »Sind Sie wahnsinnig, hier so herumzurennen. Ab nach Hause! Schnell! Es ist Krieg!« Und während ich mich auf den Weg in meine Wohnung machte, hörte ich es schon krachen, irgendwo mehrere Häuserblocks weiter.
In den ersten Tagen war ich wie gelähmt, traute mich nicht auf die Straße. Zu diesem Zeitpunkt waren die Russen bereits zwanzig Kilometer von meiner Wohnung entfernt.
Aber wie kommt man eigentlich als Mönchengladbacher dazu, aus einem Land zu berichten, wo es Tod, Zerstörung und Verzweiflung gibt? Eben Krieg. Wenn mich heute jemand fragen möchte, ob ich in ein Land reisen würde, wo Krieg herrscht, würde ich höflich ablehnen.
Der Anruf von der »Taz« erreichte mich im Januar 2014. Der »Maidan« in Kiew war voller Menschen. »Du, in Kiew sind gerade Demonstrationen, die erscheinen uns so wichtig, dass wir meinen, wir brauchen jemanden, der von vor Ort berichten wird«, sagte Barbara Oertel. »Hast Du Lust und Zeit?« Beides hatte ich.
Bernhard Clasen, Jahrgang 1957, ist seit elf Jahren Korrespondent in der Ukraine. Von 1980 bis 1986 studierte er Russisch an der Universität Heidelberg. Anschließend war er als Journalist, Übersetzer und Dolmetscher für Russisch und Ukrainisch tätig. Seit Januar 2014 lebt er in Kiew, war auf dem Maidan, lebte 2014 mehrere Wochen in Donezk und hat mehrfach Odessa, Charkiw, Poltawa, Uschhorod, Lwiw und Iwano-Frankiwsk besucht. Nur ein deutscher Korrespondent ist noch länger im Land als er.
Zum letzten Mal machte ich mich am nächsten Tag am frühen Morgen auf den Weg zu meinem Fitness-Club. Mit einer Reinigungsfrau hatte ich einen lockeren Kontakt. Sie sprach Russisch und wir freuten uns, wenn wir am frühen Morgen etwas Gesprächsstoff hatten. Als ich Marina an diesem Morgen berichtete, dass ich wohl nicht mehr zum Fitnessclub kommen werde, weil ich auf unbestimmte Zeit nach Kiew gehen werde, sagte sie mir: »Oh, in Kiew wohnt meine Mutter. Da können Sie gerne wohnen. Und mein Bruder, der beim Militär tätig ist, wird sie gerne abholen.« Und so wohnte ich die ersten Wochen in Kiew bei einer Frau, die ich durch puren Zufall kennengelernt hatte.
Losgefahren bin ich mit dem Gefühl, dass ich nun direkt bei einem Ereignis dabei sein kann, das so wichtig ist, wie es die Streiks der polnischen Gewerkschaft Solidarność unter Lech Walesa im August 1980 waren. Diese hatten eine kommunistische Diktatur zu Fall gebracht.
Ankunft in Kiew
Bei meiner Ankunft spürte ich sofort, dass eine besondere und aufgeregte Stimmung in der Stadt herrschte. Marinas Mutter hatte eine mittlere Position in einer Behörde. Und sie war zunächst gegen die Demonstrationen auf dem Maidan. In einigen Monaten seien Präsidentschaftswahlen, hatte sie zunächst argumentiert. Und da reiche es doch, wenn man jetzt schon für einen Gegenkandidaten bei diesen Wahlen mobilisiere. Doch irgendwann kippte auch bei ihr die Stimmung. Sie hatte sich anstecken lassen von der Begeisterung in ihrem Umfeld. Jeden Tag hatten Bewohner dieses Hochhauses in einem Schlafviertel am Stadtrand in kleinen Gruppen den Maidan aufgesucht, um die Demonstrierenden zu unterstützen: mit Kleidung, Lebensmitteln, Zigaretten oder auch ein bisschen Geld. Andere aus dem Haus gingen gar selbst mehrmals die Woche auf den Maidan zum Demonstrieren. Man wollte diesen korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch, der zwar durch Wahlen an die Regierung gekommen ist, nun aber mit seiner Vetternwirtschaft und Korruption das Vertrauen eines großen Teils der Bevölkerung verspielt hatte, aus dem Amt jagen.
Anfang 2015 hatte ich mir bei einem Besuch des früheren Landsitzes von Janukowitsch selbst den unglaublichen Luxus gesehen, in dem Janukowitsch gelebt hatte. Es war eine außergewöhnliche Stimmung. Man stelle sich einmal vor: In deiner Stadt sind regierungsfeindliche Demonstrationen, auf denen auch schon Schüsse gefallen sind und trotzdem gehen Menschen, die noch nie zuvor in ihrem Leben demonstriert hatten, auf diese Demonstrationen. Kurzum: die Demonstrationen auf dem Maidan waren sehr geerdet, in der Bevölkerung verankert. Es war einer der wenigen historischen Augenblicke, in denen niemand Angst zu haben schien.
»Berührend war mein Besuch in Huljajpole, einer schwer zerstörten Frontstadt in der Ostukraine.«
Heute glaube ich, dass es nicht richtig war, dass ich mich als Journalist zu sehr mit einer Sache identifiziert habe. Dass auf dem Maidan auch Sprechchöre wie: »Tod dem Feind«, »Die Ukraine über alles«, »Hängt die Russen an einem Baum auf«, die zu einem demokratischen Aufbruch nicht passten, zu hören waren, fand ich damals eine zu vernachlässigende Kleinigkeit irgendwelcher durchgeknallter Rechtsradikaler. Dabei sollte man sich mal überlegen, wie wohl der deutsche Stammtisch reagieren würde, wenn in einem Nachbarland eine Bewegung an die Regierung käme, die mit Sprüchen wie »Hängt die Deutschen auf« demonstriert hat. Auch der Umstand, dass nicht nur hundert Demonstranten, sondern auch zwölf Polizisten ums Leben gekommen waren, tat meiner anfänglichen Begeisterung für die Maidan-Bewegung keinen Abbruch. Inzwischen frage ich mich auch, ob es richtig ist, einzig und allein der Polizei die Schuld für die Gewalt auf dem Maidan zu geben. Polizisten haben nun mal die Aufgabe, ein Regierungsviertel zu schützen, wenn es von Menschen, die mit Steinschleudern bewaffnet sind, belagert wird.
Mit der Flucht von Janukowitsch im Februar 2014 endete auch seine Herrschaft, war der Sieg der Maidan-Bewegung besiegelt. Janukowitsch hatte nicht das Format eines Salvador Allende, der sich im Präsidentenpalast mit der Waffe in der Hand seinen Gegnern entgegenstellt hatte.
Donezk und Luhansk
Sofort machte ich mich auf den Weg nach Donezk, schien doch nun diese Stadt ein Zentrum wichtiger Ereignisse zu werden. Und da quartierte ich mich für mehrere Wochen im Hotel »Liverpool« im Zentrum von Donezk ein. Überall, an den Wänden und den Zimmern, hingen Bilder von den Beatles. Doch der prowestliche Touch des Hotels trog. Ich war der einzige Hotelgast mit einem westlichen Pass. Alle anderen waren Russen, wie mir ein Blick in die geöffnete Schublade bei der Rezeption verraten hatte. Mein Nachbar im Nebenzimmer hatte einige seiner Verzeichnisse in seinem Laptop nicht gesperrt. Und so verriet mir ein Blick in seine Directories, was ihn wirklich interessierte: russische Marschmusik.
Ich beobachtete auch die Demonstrationen der Separatisten auf dem Donezker Lenin-Platz. Sie waren bei Weitem nicht so in der Bevölkerung verankert wie die Maidan-Demonstrationen. Nie waren es mehr als 3000 Demonstrierende. Von Begeisterung war nichts zu spüren. Ich vergesse die Stimme einer Rednerin nicht, die an die anwesenden Frauen gerichtet ausrief: »Frauen, werft eure Männer aus ihren Sofas, schickt sie her zu den Demonstrationen auf dem Lenin-Platz!«
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Einmal hatte ich in Donezk eine Demonstration von proukrainischen Aktivisten besucht. Sie waren eine kleine Gruppe von maximal 300 Personen. Man sah ihnen die Angst an, die sie hatten, als sie ihre blau-gelben Banner aus ihren Taschen holten und hochhielten. Zuerst standen sie nur einer kleinen Gruppe von Gegendemonstranten gegenüber, doch mit der Zeit wurde diese Gruppe immer größer – und die Polizei immer lascher bei ihren Versuchen, die beiden Gruppen zu trennen.
Nach 20 Minuten verließ ich die Demonstration wieder. Ich hatte kein gutes Gefühl. Auf dem Weg zurück kamen mir 600 Gegendemonstranten entgegen, die meisten von ihnen waren mit Fahrradketten und Baseballschlägern bewaffnet. Und sie waren – wie ich später erfahren habe – sehr gewalttätig gegen die proukrainischen Aktivisten vorgegangen. Die Polizei hatte beide Augen zugedrückt. Diese Gegendemonstranten waren noch proukrainischen Aktivisten bis in ihre Höfe nachgelaufen, haben sie dann dort zusammengeschlagen. Auch auf dem Hof vor meinem Hotel hat sich so eine Szene abgespielt.
Die Frau von der Rezeption
Ich hatte mein Hotelzimmer in Donezk immer wochenweise bezahlt. Als ich eines Tages wieder die Frau an der Rezeption fragte, ob ich noch eine Woche bleiben könne, sah sie mich mit geweiteten Pupillen an. »Haben Sie vor, heute hinauszugehen?«, schoss es aus ihr heraus. Und sie schob nach: »Bitte gehen Sie heute Abend auf keinen Fall aus dem Haus« – und verschwand aus der Rezeption. Ich hielt mich an ihren Rat.
Am nächsten Morgen ruft mich ein ukrainischer Kollege an. »Ich bin unendlich froh, deine Stimme zu hören«, sagte er mir und erklärte: Diese Nacht sei ein Deutscher entführt worden und da habe er natürlich sofort an mich gedacht. Kurzum: Die Frau an der Rezeption hat mir eine sehr unangenehme Erfahrung erspart. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Nach über einem Monat schien mir, dass es an der Zeit sei, das »Liverpool« in Richtung Kiew zu verlassen. Es gab inzwischen zu viele Unsicherheitsfaktoren. Die Schüsse in der Stadt mehrten sich, jeden Tag stand ein Mann vor dem Hotel, der anscheinend die Aufgabe hatte, mich zu beobachten. Die bewaffneten Männer, die durch die Straßen patrouillierten, machten mir Angst, und die Entführung eines Deutschen zeigte mir, dass es um meine Sicherheit nicht mehr gut bestellt war. Und so ging ich wieder nach Kiew zurück – in eine eigene Wohnung.
Ich habe immer wieder auch Moskau besucht. Das letzte Mal 2021. Und ich habe dort einen unglaublichen Hass auf die Ukraine erlebt. Es war nicht nur ein russischer Taxifahrer, der mir erklärt hatte, dass er kein Verständnis für »Putins Geduld« habe. Wenn er im Kreml säße, hätte er schon längst ein »Atombömbchen« auf die Ukraine geworfen, damit dieser anarchistische Spuk da unten endlich aufhöre, hatten mir nahezu gleichlautend auch Taxifahrer in Moskau und in St. Petersburg gesagt.
Bei einem Flug von Moskau nach Kiew – ja, das gab es damals noch – sind mir die vielen Männer aufgefallen, die mitgeflogen sind. Irgendwie waren das alles die gleichen Typen: sportlich, völlig unbeteiligt aus dem Fenster sehend, mit ähnlichen Taschen, geputzten Schuhen, unauffälliger Kleidung, absolut schweigsam. Kurzum, ungefähr die gleichen Typen, die ich im Hotel »Liverpool« in Donezk beim Frühstück gesehen hatte.
Russen seit 2014 im Donbass
»Biegen Sie doch bitte jetzt nach links ab«, hatte ich an einem Abend meinen Taxifahrer in Luhansk gebeten. »Machen Sie mal die Augen auf, das geht jetzt nicht«, hatte er mir geantwortet. Und dann habe ich sie gesehen: ungefähr 50 olivgrüne kleine Lkw, die von der russisch-ukrainischen Grenze in die Stadt gekommen waren. Alle fuhren sie langsam im Schritttempo, alle hatten sie nur Standbeleuchtung an.
»Wissen Sie, wie man die russischen Soldaten von den einheimischen Kämpfern unterscheiden kann?«, fragte er mich und gab gleich selbst die Antwort: »Die Russen fahren langsam und im Konvoi durch die Stadt, unsere hingegen rasen wie die Wilden durch die Stadt, meinen, sie seien genauso cool wie Che Guevara.« Aber ich solle ihn auf gar keinen Fall mit seinem Namen zitieren, bittet er mich. »Sonst muss ich in den Keller.« Die Separatisten hatten immer wieder Oppositionelle in Kellern unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt.
Auch wenn die Menschen in den Militärdiktaturen der »Volksrepubliken« Angst vor ihren Herrschern hatten: Mit zunehmendem Beschuss ziviler Objekte wie Wohnhäusern und Bushaltestellen durch ukrainische Verbände stellten sich die Menschen in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten hinter ihre Herrscher. Mit denen in Kiew wollte man wirklich nichts zu tun haben.
Das letzte Mal habe ich die Separatistengebiete 2015 besucht. Ich denke, es ist ein Manko meiner Arbeit, dass ich über die Ukraine nur von Gebieten aus berichten kann, die von Kiew kontrolliert werden. Weil das nicht nur mir so geht, entsteht eine Schieflage: Es kommt in der Öffentlichkeit kaum an, dass die ukrainische Armee auch zivile Objekte in Donezk, der Krim und im russischen Belgorod angreift. Wenn in Saporischschja, Charkiw oder Kiew Menschen ums Leben kommen, wird groß darüber berichtet, wenn Gleiches in Donezk, Luhansk oder Belgorod passiert, gibt das bestenfalls eine Kurzmeldung.
Meine falsche Prognose
Nein, dass Russland die Ukraine im großen Stil angreift, hatte ich nicht für möglich gehalten. Das kann doch gar nicht im russischen Interesse sein, war ich mir sicher. Zum anderen hatte Präsident Selenskyj selbst gesagt, dass es dazu nicht kommen werde.
Dann war er doch gekommen, der Morgen des 24. Februar 2022. Irgendwann Anfang März bin ich dann auch nach Deutschland geflohen.
Und wie komme ich selbst mit dem Leben im Krieg klar? Kaum ist es etwas ruhiger um Kiew geworden, kehrte ich im Sommer wieder zurück. Ich kehrte zurück, weil ich viele Menschen in der Ukraine kenne. Die wollte ich nicht im Stich lassen mit einem: »Bitte habt Verständnis, aber solange geschossen wird, bleibe ich in Deutschland.« Menschliche Beziehungen gehen kaputt, wenn man nur die angenehmen Augenblicke miteinander teilt.
Dass ich mit dem Krieg klarkomme, liegt vor allem an meiner Fähigkeit, mich selbst anlügen zu können. Eine dieser Lügen geht zum Beispiel so: »Wenn in der Mehrmillionenstadt Kiew im Monat ein Dutzend Menschen getötet werden, so werde ich, rein statistisch betrachtet, nicht darunter sein.« Eine andere so: »Die Drohnen beschädigen nur Balkone und Außenwände. Wenn ich mich also im Inneren einer Wohnung aufhalte, im Gang oder der Toilette, passiert mir nichts.« Eine dritte Lüge ist: »Die schießen doch nur auf Objekte der Energieversorgung. Hier in der Nähe ist aber kein solches ein Objekt.«
Hilfreich ist mir auch das Gitarrespielen und meine sportliche Betätigung beim Joggen. Ich sehe auch, wie privilegiert ich bin. Ich habe einen deutschen Pass. Ich kann jederzeit nach Deutschland reisen. Ich muss nicht Angst haben, dass ich auf der Straße von Militärs festgehalten und in den Krieg geschickt werde. Ich habe immer noch zwei Beine und zwei Arme und immer einen vollen Kühlschrank.
Pazifist bin ich keiner mehr. Die Russen standen ungefähr zwanzig Kilometer von meiner Wohnung entfernt vor Kiew, und ich hätte sicherlich, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, diese Wohnung auch mit der Waffe in der Hand verteidigt. Genauso wie ich mich auch in Donezk mit der Waffe in der Hand verteidigt hätte, wenn plötzlich der Rechte Sektor vor meiner Haustür gestanden hätte.
Berührend war mein Besuch in Huljajpole Anfang 2024, einer schwer zerstörten Frontstadt in der Ostukraine, mit wenig verbliebenen Einwohnern. Diese Stadt wird regelmäßig von russischer Artillerie angegriffen, nachts sind fast alle Bewohner in ihren Kellern, aus Angst vor dieser Artillerie. Trotz der prekären bedrückenden Lebensbedingungen – ohne Strom, Heizung oder intakte Fenster – sind vor allem ältere Bewohner in der Stadt geblieben. Einige Bewohner haben geweint, als sie gesehen haben, dass die Feuerwehr aus Saporischschja sie besucht und lebensnotwendige Hilfsgüter, die für ihr Überleben entscheidend sind, mitbringt.
Wohl am meisten beeindruckt hat mich meine Begegnung mit Mykola und Julia Petrenko im Januar 2025 in Kiew. Die beiden hatten lange ein sehr erfülltes Leben. Sie haben zwei prächtige Söhne, ein kleines Bauunternehmen mit einem Dutzend Angestellten, ausreichend Geld und eine Wohnung. Und sie lieben sich. Doch dann kam der Krieg, und Mykola musste zum Militär. Und dann im Sommer 2024 riss ihm eine Explosion in der Nähe von Charkiw sein linkes Bein weg. Seit Juni 2024 verbringt er die meiste Zeit in Krankenhäusern. In Lwiw hatte man ihm eine Prothese angefertigt. Doch irgendwie wollte sein Körper diese Prothese nicht annehmen. Ende 2024 nahm man ihm die Prothese wieder ab. Seitdem verbringt er wieder die meiste Zeit in einer Klinik in Kiew. Gleichwohl sorgen sich er und seine Frau Julia mehr um ihre beiden Söhne und um andere junge Menschen. »Wir haben doch alles gehabt im Leben«, sagt Julia. »Aber die jungen Leute, die haben das Leben noch vor sich. Ich weine um jeden jungen Menschen aus meiner Nachbarschaft, der sein Leben verliert.«
Zehn Jahre später, 2024, habe ich Marina wiedergesehen. Die Frau, die mir einen Aufenthalt bei ihrer Mutter in Kiew vermittelt hatte und die sich damals mit mir gefreut hatte, dass sie mir mit der Unterkunft hatte helfen können. Ich war auf einem Flohmarkt in Mönchengladbach, studierte einen Verkaufstisch. Gegenüber stand eine Frau, die das Gleiche tat. Wir blickten uns kurz an, und erkannten uns. Es war Marina. Wir gingen aufeinander zu, wollten irgendetwas sagen, konnten das aber nicht. Standen uns nur schweigend gegenüber. Nach langen Sekunden des Schweigens fing sie an zu weinen. Dann drehte sie sich um und verschwand in der Menge in der Fußgängerzone.
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