Politiker der Herzen

Uruguays Ex-Präsident José »Pepe« Mujica ist mit 89 Jahren verstorben

Bescheiden und vielerorts verehrt: Uruguays José »Pepe« Mujica
Bescheiden und vielerorts verehrt: Uruguays José »Pepe« Mujica

Er trug sein Herz auf der Zunge: »Die Alte ist schlimmer als der Einäugige.« Dass die Mikrofone noch offen waren, wusste José »Pepe« Mujica nicht, als er sich als amtierender Präsident Uruguays 2013 über die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015) und ihren 2010 verstorbenen, schielenden Ehemann Nestór Kirchner (Präsident Argentiniens 2003–2007) äußerte. Die Kirchners standen Mujica politisch durchaus nahe, gehörten wie er zum links-progressiven politischen Spektrum Lateinamerikas, auf einer persönlichen Wellenlänge lagen sie aber offenbar nicht. Größere diplomatische Verwerfungen gab es deswegen zwischen dem 3,4-Millionen-Land Uruguay und dem großen Nachbarn Argentinien (46 Millionen Einwohner*innen), dem man in Hassliebe verbunden ist, nicht. In Uruguay und darüber hinaus war Mujica gerade wegen solcher Äußerungen populär. Ein Jahr später beschimpfte er während der Weltmeisterschaft in Brasilien die Fifa-Offiziellen als »einen Haufen alter Hurensöhne«, nachdem dem uruguayischen Stürmer Luis Suárez für das Beißen eines Gegenspielers eine lange Sperre aufgebrummt worden war. Am Ende seiner fünfjährigen Präsidentschaft 2015 hatte Mujica eine Beliebtheitsrate von fast 70 Prozent. Das lag weit über der Zustimmung bei seinem Sieg in der Stichwahl um die Präsidentschaft 2009 von fast 53 Prozent der Stimmen.

Liebe ist kreativ und Hass zerstört uns

Im Oktober 2020 hatte der am 20. Mai 1935 in Montevideo als Sohn eines Vaters baskischer Einwanderer und einer Mutter italienischer Herkunft Geborene seine lange politische Karriere mit schlichten Worten beendet. »Die Pandemie wirft mich aus der Bahn. Senator zu sein, bedeutet, mit Menschen zu sprechen und herumzulaufen.« Per Brief, der in einer außerordentlichen Sitzung des Senats verlesen wurde. Darin hinterließ er sein politisches Vermächtnis: »Hass ist Feuer wie Liebe, aber Liebe ist kreativ und Hass zerstört uns. Ich habe jede Menge Fehler, ich bin leidenschaftlich, aber in meinem Garten habe ich jahrzehntelang keinen Hass kultiviert, weil ich eine harte Lektion gelernt habe, die mir das Leben auferlegt hat, dass Hass uns am Ende dumm macht und uns die Objektivität verlieren lässt.«

Grund genug zum Hass hätte Mujica haben können. Er saß fast 15 Jahre in Haft, die meisten davon während der uruguayischen Militärdiktatur (1973–1985), deren Überwindung er sich mit seinen Mitstreiter*innen der Stadtguerilla Tupamaros verschrieben hatte. 1964 schloss er sich der Guerillabewegung an. Er wurde viermal inhaftiert und war an zwei Ausbrüchen beteiligt, von denen einer im September 1971 legendär wurde, als 106 Guerilleros aus dem Gefängnis Punta Carretas in Montevideo durch einen langen, monatelang gegrabenen Tunnel entkamen. Er wurde wieder gefasst und gehörte 1972 zu den »neun Geiseln« des Militärregimes, die hingerichtet werden sollten, wenn ihre Organisation wieder zu den Waffen greifen würde. Dazu kam es nicht. Mujica überlebte Knast und Folter, wenngleich gezeichnet. Er erkrankte schwer an einem Blasenleiden und verlor schließlich eine Niere.

In der von Miguel Ángel Campodónico verfassten Biografie »Mujica« erinnerte er sich an diese Zeit: »Ich spreche nicht gerne über die Folter und wie schlimm es mir ergangen ist. Es macht mich sogar ein wenig wütend, weil ich gesehen habe, dass es manchmal eine Art Wettlauf gab, der mit einem ›Foltermeter‹ gemessen wurde. Menschen, die sich daran erfreuen, immer wieder zu sagen: ›Oh, was für eine schlimme Zeit ich hatte.‹« Mujicas versöhnliche Haltung ist in Uruguay durchaus umstritten: Ihm wird in Teilen vorgeworfen, dass er als Präsident nicht genug getan habe, um die Militärs, die für das Verschwindenlassen und die Folter während der Diktatur verantwortlich waren, strafrechtlich zu verfolgen. Mujica entgegnete, er habe beschlossen, die Schulden, die ihm seine Kerkermeister schuldeten, »nicht einzutreiben«. Auch deswegen hängt die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur in Uruguay der im benachbarten Argentinien hinterher.

Sieben der 15 Jahre im Gefängnis verbrachte er in Isolationshaft. »Diese Jahre der Einsamkeit waren wahrscheinlich die, aus denen ich am meisten gelernt habe«, erzählte Mujica in einem BBC-Interview. Im Zuge der Amnestie am Ende des uruguayischen Militärregimes 1985 wurde er freigelassen. Diesen Tag bezeichnete er als seine schönste Erinnerung. Die Präsidentschaft sei damit nicht annähernd vergleichbar.

Minister für Landwirtschaft

Bevor er das höchste Amt erlangte, war er Abgeordneter und Senator und 2005 Minister für Viehzucht und Landwirtschaft in der ersten Regierung der Frente Amplio, des Linksbündnisses Uruguays. Nach seiner Präsidentschaft machte Mujica als Senator weiter.

Aus seiner Amtszeit bleiben vor allem drei Gesetze in Erinnerung: die Legalisierung der Abtreibung Ende 2012 sowie 2013 die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die staatliche Regulierung des Marihuanamarktes. »Die Welt muss bestimmte Dinge akzeptieren, die unabänderlich sind«, sagte er über diese Entscheidungen, die für ihn weder links noch rechts seien, sondern einfach eine Frage des gesunden Menschenverstands.

Während seiner Amtszeit vermied es Mujica, in die Präsidentenvilla zu ziehen, wie es für Staatsoberhäupter in aller Welt üblich ist. Stattdessen wohnte er mit seiner Frau, der Politikerin und ehemaligen Guerillera Lucía Topolansky, auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Montevideo, den sie selbst bewirtschafteten, ohne Haushaltshilfe und mit wenig Sicherheitspersonal. Kinder hatten sie nicht. »Liebe hat ein Alter. Wenn man jung ist, ist sie ein Lagerfeuer. Wenn man alt ist, ist sie eine süße Gewohnheit. Wenn ich am Leben bin, dann weil sie es ist«, sagte Mujica kurz vor seinem Tod. Er starb am Dienstag im Alter von 89 Jahren an den Folgen einer Speiseröhrenkrebserkrankung im Beisein seiner Frau auf seinem geliebten Bauernhof.

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