Argentinien: Faschismus, postapokalyptisch

Die argentinische Netflix-Serie »El Eternauta« erzählt von Widerständigkeit in einer großen Katastrophe. Daniel Loick aus Buenos Aires

Mileis Amerika – Argentinien: Faschismus, postapokalyptisch

An jeder Ecke in Buenos Aires hängen Plakate der neuen Netflix-Serie El Eternauta. El Eternauta basiert auf einem berühmten Comic von Héctor Germán Oesterheld und ist die teuerste argentinische TV-Produktion aller Zeiten. Sie beginnt mit einem mysteriösen Schneefall, der einen Großteil der Stadtbevölkerung sofort tötet. Geschützt durch eine alte Gasmaske und einen notdürftig zusammengeflickten Anzug macht sich der Protagonist Juan Salvo auf den Weg, um seine Tochter zu suchen. Erst am Ende der ersten Staffel erfährt man, dass es sich bei dem Schneefall um einen Angriff bösartiger Aliens handelte. Während der Original-Comic als Allegorie auf den Imperialismus gelesen werden kann – Oesterheld und seine Kinder wurden 1977 selbst von der US-gestützten Militärjunta »verschwunden« – lässt sich die Netflix-Adaption als eine Metapher für den zeitgenössischen Faschismus interpretieren. Die zentrale Botschaft der Serie ist schon im Werbetext preisgegeben: In der Katastrophe kann man nicht allein überleben, sondern nur durch Solidarität und Gemeinschaft.

Daniel Loick

Daniel Loick ist Abolitionist und Associate Professor für Politische Philosophie an der Universität Amsterdam. Im Rahmen eines Auslandsaufenthalts schreibt er in seiner Kolumne »Aus dem faschistischen Amerika« alle zwei Wochen über den autoritären Alltag in den USA und Argentinien.

Neben dieser offensichtlichen, metaphorischen Ebene ist der Erfolg von El Eternauta aber noch aus einem anderen Grund interessant: Er lässt uns über die Zeitvorstellungen des Autoritarismus nachdenken. Für unser Forschungsprojekt habe ich in Buenos Aires die Soziologin Gisela Catanzaro interviewt. Für sie stellt ein apokalyptisches Grundgefühl das Kennzeichen insbesondere des argentinischen Autoritarismus dar. Hierfür steht Mileis Kettensäge: Es geht gar nicht mehr um die Herstellung einer Ordnung oder die Verteidigung der eigenen Privilegien, sondern um ein ungezügeltes Begehren nach Chaos und Zerstörung. Der Hintergrund dieses enthemmten Todestriebes ist eine Entleerung von Zukünftigkeit: Da es ohnehin nicht besser wird, genieße ich wenigstens die Verwüstung.

Es erscheint daher oft hilflos, vor den Gefahren des Faschismus zu warnen: Statt Widerstand zu mobilisieren, können apokalyptische Szenarien Gefühle der Lähmung, der Angst oder des Fatalismus erzeugen. El Eternauta hingegen funktioniert anders. Die Serie ist nicht apokalyptisch, sondern post-apokalyptisch: Die Katastrophe steht nicht erst bevor, sondern ist bereits passiert und passiert weiterhin. Überträgt man diese Perspektive auf den Faschismus, so kann man erkennen, dass auch er nicht ein Ereignis in der Zukunft darstellt, sondern bereits stattgefunden hat und weiterhin stattfindet. Darauf haben unterdrückte Gruppen schon von jeher hingewiesen: Demütigung, Gewalt, Repression, Deportation, Mord stellen keinen Bruch mit der normalen Ordnung dar, sondern sind bereits seit langem Teil ihrer Lebensrealität. Die Aliens sind schon lange da.

Der Kulturwissenschaftler Evan Calder Williams schlägt als Held einer post-apokalyptischen Bildsprache die Figur des salvage punk (etwa: Bergungs-Punk) vor, wie er in den Welten von Mad Max, Last of Us oder eben auch El Eternauta vorkommt. Statt einen vor-apokalyptischen Zustand zu verteidigen oder wiederherstellen zu wollen, sucht er in den Überresten der alten Ordnung nach Werkzeugen für den Aufbau einer neuen Welt. Nach meiner Reise nach Buenos Aires war ich mir sicher, dass der Bergungs-Punk auch eine Leitfigur für antifaschistische Politik sein kann. Apokalyptische Warnungen binden uns an eine Vorstellung der Normalität einer Ordnung, die selbst permanent Gewalt reproduziert. Postapokalyptische Bergungen hingegen helfen uns, diese Fiktion zu vermeiden: Wir wollen nicht »zurück« zur liberalen Demokratie, sondern ihre Ruinen durchstreifen und ihre Trümmer nach etwas durchsuchen, das wir noch benutzen können, um in einer toxischen Welt zu überleben.

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