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»Schule muss als kleiner demokratischer Staat gedacht werden«
Die Bildungsforscherin Nina Kolleck über Strategien, die auf rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen einwirken können
In Ihren Studien untersuchen Sie die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft. Wie werden Jugendliche rechtsextrem?
Eine Radikalisierung kann sehr unterschiedlich erfolgen und mit Persönlichkeitsprofilen zusammenhängen, aber auch mit psychologischen Prozessen oder frühen Kindheitstraumata. Bestimmte Einflüsse sind allerdings besonders stark, dazu gehört der von der Familie. Wenn es rechtsextreme Tendenzen im Elternhaus gibt, dann werden Kinder oft von diesen Einstellungen geprägt. Je jünger die Kinder sind, desto mehr tendieren sie dazu, die rechten Narrative von ihren Eltern anzunehmen. Aber auch die Peer-Group spielt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Wenn Kinder aus Familien kommen, in denen keine rechten Gedanken kultiviert werden, kann eine Radikalisierung in den Schulen, über den Freundeskreis stattfinden. Außerdem ist davon auszugehen, dass rechte Prägungen in manchen Regionen stärker zutage treten als in anderen.
Die Bildungsforscherin Nina Kolleck untersucht in ihren Arbeiten, welche Auswirkungen soziale Beziehungen auf die Gesellschaft haben und wie diese auf die Formung von Identitäten und demokratischen Systemen einwirken. Sie ist Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam.
Woran liegt das?
Gesellschaftliche Debatten spielen dabei eine Rolle. Die Rolle der Medien sollte dabei nicht unterschätzt werden. Wenn beispielsweise über Migration oder übers Gendern immer wieder abfällig gesprochen wird, dann kann das die rechten Tendenzen bestärken und festigen. Es gibt in der jungen Generation insgesamt eine große Unsicherheit durch Kriege und Wirtschaftskrisen; auch die Corona-Pandemie wirkt noch nach. Viele Jugendliche haben Angst davor, dass ein Ausnahmezustand zurückkehrt. Zudem kursieren jede Menge Verschwörungserzählungen, und einige Menschen tendieren dazu, einfache Lösungen für diese doch sehr komplexen Probleme anzunehmen.
Die sozialen Medien unterstützen diese Entwicklungen maßgeblich?
Ja, auch die digitalen Netzwerke spielen eine große Rolle bei der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, sie prägen ihre Identitäten. Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie Hassrede sind in den sozialen Medien enorm vertreten. Diese Inhalte werden in den virtuellen Räumen durch Algorithmen vielfach begünstigt.
Welche Handlungsmöglichkeiten haben Bildungseinrichtungen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?
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Die politische und demokratische Bildung hat in den Schulen leider einen eher geringen Stellenwert. Wenn aber Schüler*innen sich nicht an demokratischen Aushandlungsprozessen beteiligen und eine eigene Position vertreten können, dann entsteht ein Paradox zum gesellschaftlichen Anspruch an sie. Dann erleben Kinder und Jugendliche einen Widerspruch. In den Schulen muss die Mitbestimmung zunehmen, die Schule muss als kleiner demokratischer Staat gedacht werden.
Wichtig ist außerdem die Medienbildung. Kinder und Jugendliche müssen lernen, zwischen Fakten und Fake-News zu unterscheiden. Wir können die sozialen Medien nicht verbannen und einfach ausschalten, aber wir können in den Schulen Gegenräume schaffen. Notwendig sind Orte, in denen Schüler*innen zur Ruhe kommen, in denen sie reflektieren können, was in den sozialen Medien vorgelebt wird.
Die Schule ist in den vergangenen Jahren zu einem kulturell sehr vielschichtigen Ort geworden. Schützt das vor Rechtsextremismus?
Offensichtlich nur bedingt. Ich beobachte, dass es bei Jugendlichen eine sehr starke Differenzierung gibt – mit vielen Mikrotrends, die oft schnelllebig sind und über soziale Medien verbreitet werden. Sie betreffen zum Beispiel Kleidung, Sprache oder Verhalten. Gleichzeitig gibt es aber auch tiefere weltanschauliche Unterschiede: Die einen setzen sich etwa für Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit ein, während andere einem konservativen Lebensstil anhängen, der auch traditionelle Geschlechterrollen und die Ausgrenzung von Migrant*innen einschließt. Diese Polarisierung spiegelt sich auch in der letzten Jugendwahl zur Bundestagswahl wider – dort schnitten sowohl Die Linke als auch die AfD stark ab.
Jetzt wächst eine Jugend heran, die keine Zeitzeugen aus der NS-Zeit mehr kennt. Stellt das eine Zäsur für die politische Bildung dar?
Ja, natürlich. Wir haben jetzt einfach noch mal eine viel größere Aufgabe, die Erinnerungskultur den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln und ihnen aufzuzeigen, welchen Wert es hat, in einer freiheitlichen Demokratie zu leben, die sich an die Menschenwürde und die Menschenrechte orientiert. Wir müssen ihnen erklären, dass es Zeiten gab, in denen diese Prinzipien nicht galten, was katastrophale Folgen für die Menschen hatte. Diese Erinnerungsarbeit ist enorm wichtig.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass bei Jugendlichen verbotene Zeichen wie Hakenkreuze oder SS-Runen ihren Schrecken verloren haben. Offenbar werden sie von der jungen Generation anders interpretiert als von deren Eltern- oder Großeltern.
Das kann sein. Tatsächlich ist zu beobachten, dass Sprüche wie »Heil Hitler« oder andere rassistische oder antisemitische Slogans ganz offen skandiert werden. Aber einige Jugendliche tendierten schon immer dazu, Tabus zu brechen. Auch in meiner Generation gab es antisemitische Kritzeleien. Allerdings erleben wir derzeit einen starken Anstieg bei der Verwendung von NS-Symbolen und anderen rechtsextremen Codes – in den sozialen Medien, aber auch in Form von Kritzeleien in Schulgebäuden.
Diese Entwicklung geht mit einem allgemeinen Klima der Verrohung einher. Besonders in den sozialen Medien ist es vielerorts zur Norm geworden, andere herabzuwürdigen. Diese aggressive Sprache greift mehr und mehr auf den Alltag über – unabhängig vom Alter.
Hier braucht es dringend eine klare Gegenbewegung. Schulen spielen dabei eine zentrale Rolle: In den Klassenzimmern treffen junge Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen aufeinander. Dort wird der Grundstein gelegt – für gegenseitigen Respekt oder für Spaltung. Letztlich entscheidet sich in der Schule, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen.
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