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US-Schulystem: Mommy Mia!
Wenn man in Deutschland schon mit der Care-Arbeit struggelt, dann kann man froh sein, keine Kinder im US-Schulsystem zu haben
Howdy aus Texas, liebe Lesende,
ich will nicht mit jeder Kolumne ihr Mitleid erwecken, aber diesmal wäre es ganz angebracht. Gerade durchleben meine Mitmuttis und ich eine schwere Periode, auch genannt »Maycember«, das ist eine Fusion der Monate Mai und Dezember und meint, dass die meisten Mütter und ein paar Väter jetzt, so kurz vor den Sommerferien, die hier Ende Mai beginnen, genauso viel Stress haben wie kurz vorm Jahresende. Das ist ein völlig unverständliches Konzept, wenn man in Deutschland lebt, wo die Schule nicht als tagtägliches Megabespaßungsevent begriffen wird. Sie wollen Beispiele? Ok: Letzte Woche bekam ich allein elf Emails von der Klassenlehrerin meiner Tochter. Das ist doppelt so viel wie sonst. In einer durchschnittlichen Woche im März oder April bekam ich fünf bis sechs. Aber der Mai ist eben hardcore: Letzte Woche war »Teacher Appreciation«, ich war »Chaperone« beim Schulausflug ins Naturzentrum, meine Tochter war »Star Student« und zu all diesen Events brauchte ich Erläuterungen. Auch Sie brauchen welche? Gerne doch.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Eine »Teacher Appreciation«-Woche ist eine fünf Tage lange Zelebration der Lehrer, die an den meisten US-Schulen am Ende des Jahres stattfindet und vom Elternrat vorgegeben wird. Was wird da vorgegeben, wollen Sie wissen? Natürlich das Motto, »90er Jahre« oder »Sommer«, dann gibt es natürlich täglich wechselnde Verkleidungsvorschläge für Lehrer und Schüler (Cartoon-Charakter, Pyjama etc.) sowie ebenso tägliche Vorgaben für die Eltern darüber, womit man die Lehrer jeden Tag beschenken sollte: Blumen, Süßigkeiten, Gutscheine etc. Woher soll man wissen, was die wollen, fragen Sie sich vielleicht? Es wird eine Excel-Tabelle mit allen Vorlieben der Lehrer verschickt, und zwar mehrmals. Die Lehrer selbst leiten die Mails weiter, sonst könnten sie ja ignoriert werden!
Sollte man bei alledem mitmachen, beraten andere Mütter und ich uns. Irgendwie schon, beschließen wir am Ende. Wäre ja unhöflich, die Sport-, Musik-, oder Kunstlehrerin auszulassen. Wie viel gibt man aus? In den lokalen Facebookgruppen raten sie, 50 Dollar pro Lehrer abzudrücken. Das erinnert doch sehr an Weihnachten, mit der Ausnahme, dass man selbst leer ausgeht.
»Chaperoning« heißt Kinder auf Ausflügen zu beaufsichtigen, eine zusätzliche Hilfestellung für die Lehrer, bei der es mehr Nachfrage als Plätze gibt, denn meine Generation Mutti ist überambitioniert und übertrieben hilfsbereit ̶ ein Haufen sogenannter »People Pleaser« ̶ und so komme ich nur zum Ende des Schuljahres per Losverfahren dran. In der Chaperoning-Mail steht, wie ich mich zu verhalten habe: Ein Vorbild soll ich sein, gut auf die Kinder aufpassen und nicht auf mein Handy gucken! Ich gehorche.
Auf dem Rückweg im gelben Schulbus sitze ich neben einem kleinen Mädchen, das nicht meins ist, weil meine Tochter neben ihren Freundinnen sitzen möchte (ich unterdrücke das Trauma der kindlichen Zurückweisung bis zur nächsten Kolumne). »Wenn ich erwachsen bin, bist du tot«, sagt das kleine Mädchen. Ich will das Thema wechseln: »Was isst du gleich in der Cafeteria?«, frage ich. »Hauptsache nichts Vegetarisches. Vegetarier sind Dummköpfe«, antwortet sie. Als sie mit mir auch noch die vorbeifahrenden Teslas zählen will, muss ich mich auf die mahnende Mail besinnen und murmle abwechselnd »Vorbild sein« und »Nie wieder Chaperoning!«
Ach, da war ja noch was! Zum »Star Student« wird man wöchentlich von der Klasse gewählt. Man hat dann bestimmte Privilegien, wie im Unterricht an der »Star Student«-Bank sitzen und den Mitschülern seine Lieblingsspielzeuge und -Bücher vorzeigen. Verkleiden muss man sich teilweise auch, in der Star-Student-Email heißt es dann »Donnerstag: Trage deinen Lieblingshut und deine Lieblingssocken zum Lernen ohne Schuhe.« Was zum Geier ist »Lernen ohne Schuhe« will ich zwar wissen, aber keine weitere Email riskieren. Am Ende der Woche müssen die Eltern eine Power-Point-Präsentation über ihr Kind basteln, meine Tochter beschwert sich, dass ich für ihre einen »langweiligen« Hintergrund gewählt hätte. Haben Sie schon Mitleid? Und ich habe nicht einmal vom »Summer Camp« erzählt. Aber ich weiß schon, Sie denken: Selbst schuld, wer an diesem Irrsinn teilnimmt! Recht haben Sie. Wenigstens war der Muttertag emailfrei.
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