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Spiel’s noch einmal

Das Berliner Theatertreffen ist vorbei. Aber wie viel verrät das diesjährige Festivalprogramm eigentlich über den Zustand von Kunst und Gesellschaft?

Wie viel Vergangenheit steckt in der Gegenwart? »Kontakthof – Echoes of ’78«
Wie viel Vergangenheit steckt in der Gegenwart? »Kontakthof – Echoes of ’78«

Gegenwart ist immer, bekanntermaßen. Und wenn jemand die gesellschaftliche Relevanz der ja per definitionem live hergestellten und schwer konservierbaren Kunstform Theater betonen zu müssen glaubt, spricht derjenige gerne überschwänglich von Gegenwartstheater. Nicht selten stellt sich bald heraus, dass doch nur gemeint war, dass die Bühnendarbietungen besonders viel Zeitgeist atmen. Hübsche Effekte sind dann zu bestaunen, aber viel Substanz gibt es nicht.

Das Berliner Theatertreffen, dessen diesjährige Ausgabe am Sonntag zum Abschluss gekommen ist, versprüht das Zeitgeistige in alle Richtungen. Wie üblich hat eine unabhängige Kritikerjury die zehn »bemerkenswertesten« Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach Berlin geladen. Was da bemerkt und als bemerkenswert erkannt wurde, ist allerdings nicht notwendig auch sehenswert für diejenigen, die das Theater nicht allein um seiner selbst willen lieben, sondern auch etwas erfahren wollen über die Welt und ihre Verfasstheit, am besten in anregender sinnlicher Art. Auch in diesem Jahr waren die meisten Produktionen gut gemacht, allesamt gut gemeint, aber nur in den selteneren Fällen als ästhetische Erfahrung erlebenswert.

Neue alte Maschen

Da wären zum Beispiel zwei Theatertreffen-Routiniers: Florentina Holzinger und Ersan Mondtag. Beide haben sich je Rezepturen für ihre Inszenierungen zurechtgelegt, die Mal um Mal nur aufs Neue verrührt werden. Holzinger hat sich Paul Hindemiths avantgardistischen Operneinakter »Sancta Susanna« vorgenommen und unter dem Titel »Sancta« (Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin u. a.) dann nach einem Viertelstündchen Hindemith aber doch ihr bekanntes Programm abgespult: viele nackte Frauenkörper, Sex und Blut, Abgründiges und Albernes. Der etwas aus der Zeit gefallene Hindemith’sche Angriff auf die katholische Sexualmoral löst sich bei ihr in versöhnlerischem Kitsch auf. Die Zeitgeistigkeit äußert sich in der Pseudoradikalität und der kritischen Geste zu massenkompatiblen Gute-Laune-Nummern zum Finale.

Mondtag hat mit »Double Serpent« (Staatstheater Wiesbaden) ein Stück von Sam Max über Missbrauch und Trauma, Sexualität und Gewalt zur Uraufführung gebracht. Wer seine Theaterarbeiten kennt, kann sich ausmalen, was dabei auf der Bühne stattfindet. In einem artifiziellen Raum finden die überzeichneten Charaktere, halb Mensch, halb Zombie, zueinander. Atmosphären wie in einem Horrorfilm entwickelt dieser Regisseur; nur das szenische Geschehen gerät dabei weit in den Hintergrund.

Das Ich auf der Bühne

Hakan Savaş Mican hat Dinçer Güçyeters »Unser Deutschlandmärchen« (Maxim-Gorki-Theater Berlin), Jan Friedrich wiederum Kim de l’Horizons »Blutbuch« (Theater Magdeburg) in Szene gesetzt. Zwei Romanadapationen für die Bühne, zwei autofiktionale Selbstumkreisungen als Gegenerzählungen zum mehrheitsgesellschaftlichen Erleben. »Unser Deutschlandmärchen« breitet die Geschichte eines deutsch-türkischen Gastarbeiterkindes aus, szenenweise ergreifend, musikalisch durchweg einnehmend. »Blutbuch« präsentiert uns eine nonbinäre Person, die Familientraumata, die sie mit sich herumschleppt, und ihre Behauptung dagegen, bleibt in der Art der Übertragung eines erzählenden Stoffes auf die Theaterbühne aber höchst konventionell. Beide Inszenierungen zehren von einem literarischen Trend, der allerdings zwischen zwei Buchdeckeln recht gut aufgehoben schien und der das Gesellschaftspolitische nur in der individuellen Erfahrung spiegelt.

Lob des Experiments?

Anita Vulesicas Spektakel »Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh’« (Deutsches Schauspielhaus Hamburg), eine szenische Aneignung des oulipotischen Schriftstellers Georges Perec, fällt etwas aus dem Rahmen. Der humorvolle, wunderbar poetische Text ist eine Wiederentdeckung wert. Bald stellt sich aber heraus, dass die Regisseurin trotz virtuosem Ensemble dem Hörspiel keine Bilder hinzuzufügen hat, die eine weitere Ebene für den Zuschauer eröffnen würden. Den Theaterbetriebskonventionen entsprechend wurde aus dem kurzen Stück ein 90-minütiger Abend gemacht, an dem das Aufregende bald in Langeweile mündet.

Auch die Produktion »[EOL]. End of Life« (Darum/Brut Wien) unterscheidet sich stark von allen anderen zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen. Mit einer VR-Brille bewaffnet wird der Zuschauer vereinzelt in eine andere Welt entlassen: Um ein digitales Leben nach dem Tod geht es dieser pathossatten Umgebung in Computerspieloptik. VR – das ist die neue kostenintensive Lieblingsspielweise von Theatermachern. Die Frage drängt sich auf, ob diese Art von Experiment mit darstellender Kunst so viel überhaupt zu tun hat oder ob es nicht viel mehr um einen Gegenentwurf zu den Grundverabredungen von Theater handelt. Mit einem Theater ohne Zuschauer, das sich nur an einen Zuschauer richtet, kann sich jedenfalls nicht jeder anfreunden.

Greifen nach dem Kanon

Die stärkeren Bühnenabende, die in den vergangenen zweieinhalb Wochen in Berlin gastiert haben, sind allesamt, teilweise überraschende, Auseinandersetzungen mit dem Kanon der Theaterkunst. Katie Mitchell hat sich etwa Federico García Lorcas »Bernarda Albas Haus« (Deutsches Schauspielhaus Hamburg) angenommen, allerdings in einer (sanften) Überschreibung von Alice Birch. Eine große Parabel auf ein System, das sich feindlich nach innen verhält und sich zugleich schützend gegen die feindliche Welt nach außen stellt, wird hier gezeigt. Große Bilder für den neuen Faschismus entstehen auf der Bühne. Ähnlich wie Ersan Mondtag ist auch Mitchell bekannt als Erschafferin von eindringlichen Atmosphären. Aber sie verbleibt nicht dabei, sondern erzählt szenisch von unserer beschädigten Gegenwart.

Brechts heute kaum jemals gespieltes Stück »Die Gewehre der Frau Carrar« (Residenztheater München) über den Spanischen Bürgerkrieg hat Luise Voigt inszeniert. Der Stoff, der gegen den Neutralismus agitiert, den – auch bewaffneten – Kampf gegen das größere Übel beschwört, bringt den Zuschauer in Konfrontation mit eingeübten Haltungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Voigt hat dafür eine überzeugende Form gefunden. Mit Björn SC Deigners schließt an Brechts Stück eine Fortschreibung an, die sich nicht affirmativ zum ersten Teil verhält, sondern kritisch befragt, ohne ihn zu karikieren. So ist eine Fußnote zu den derzeit herrschenden kriegerischen Verhältnissen entstanden, die nicht mit Antworten auftrumpft, sondern nur die richtigen Fragen stellt.

Meryl Tankards »Kontakthof – Echoes of ’78« (Tanztheater Wuppertal) ist mehr als eine Reminiszenz an eine von Pina Bauschs berühmtesten Arbeiten, einen modernen Klassiker des (Tanz-)Theaters. Teile der Originalbesetzung von 1978 stehen abermals auf der Bühne, fast um ein halbes Jahrhundert gealtert. Durch Projektionen werden die Darsteller ins Verhältnis zu dem Bühnengeschehen von einst gesetzt. Bauschs Stück über den Kampf der Geschlechter in einer postfaschistischen, noch immer lieblosen und normierten Gesellschaft, das nichts mit dem lieblichen Bild von der Tanzikone zu tun hat, das heute mitunter gezeichnet wird, kann so neu befragt werden. Hinzu kommen Fragen nach dem Nachleben des Theaters und nach der Vergänglichkeit seiner Darsteller.

Schließlich war mit »ja nichts ist ok« (Volksbühne Berlin) die letzte Regiearbeit von dem zwei Wochen nach der Premiere verstorbenen Volksbühnenintendanten René Pollesch vertreten. Ein Soloabend für Fabian Hinrichs, in dem die große Ratlosigkeit in der Gesellschaft auf aufrüttelnde Weise verhandelt wird. Auch diese Inszenierung ist vielleicht am ehesten als eine Klassikerauseinandersetzung zu begreifen, als Teil eines Kanons, der sich immer neu formiert. Denn das Pollesch-Theater, das sich auch nach dem plötzlichen Tod des Autor-Regisseurs fortsetzt, hat sich längst als stilbildend erwiesen. Auch weil es dem Zeitgeist immer wieder ein Schnippchen geschlagen hat.

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