- Berlin
- Jahresbilanz Berliner Antisemitismus
RIAS verzeichnet 2521 antisemitische Fälle
Die Recherchestelle stellt neue Antisemitismus-Zahlen für 2024 in Berlin vor und stützt sich weiterhin auf die IHRA-Definition
Die Zahl antisemitischer Angriffe in Berlin hat sich innerhalb des letzten Jahres verdoppelt, und solche Angriffe finden in allen Lebensbereichen statt. Das geht aus dem Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) für das Jahr 2024 hervor. 2521 antisemitische Vorfälle – ein Monatsdurchschnitt von 210 – registrierte der Verein in der Hauptstadt. Er geht zudem von einer hohen Dunkelziffer aus. Antisemitismus wachse dabei nicht nur quantitativ, auch die Intensität habe deutlich zugenommen, teilte Alexander Rasumny vom Verein OFEK e. V. bei der Pressekonferenz anlässlich der Veröffentlichung des RIAS-Berichts mit.
Unter den verschiedenen Antisemitismus-Formen, die der Bericht berücksichtigt, werden 71,3 Prozent der dokumentierten Fälle dem »israelbezogenen Antisemitismus« zugeordnet. Jüdische und israelische Institutionen seien zahlenmäßig am häufigsten von Antisemitismus in Berlin betroffen. Ein Großteil der dokumentierten Fälle (43 Prozent) bezog sich laut RIAS-Bericht auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und die israelische Kriegsführung in den besetzten palästinensischen Gebieten seit dem 9. Oktober 2023.
Was RIAS als antisemitisches Narrativ, als Motiv und Bezugnahme versteht, macht die Recherchestelle an der in fachwissenschaftlichen Kreisen stark diskutierten IHRA-Definition für Antisemitismus fest.
Durch die Gewalt im Nahen Osten sei eine »Gelegenheitsstruktur« entstanden, die »kurzzeitig zu einem sprunghaften Anstieg führen oder auch langfristig über viele Monate hinaus wirken« könne, heißt es im Bericht. So würden bereits bestehende antisemitische Narrative aufgegriffen und dadurch normalisiert.
Auf 208 Versammlungen dokumentierte RIAS »antisemitische Artikulationen in Wort, Bild oder Schrift«. Durch diese antisemitischen Inhalte seien die jeweiligen Versammlungen zwar nicht per se dominiert. Allerdings würden sie »eine öffentlichkeitswirksame Plattform für antisemitische Äußerungen« bieten.
Der »politisch-weltanschauliche Hintergrund« der antisemitisch Handelnden ist in knapp 70 Prozent der Fälle nicht feststellbar. Dabei positionierten sie sich häufig selbst auf symbolische Weise innerhalb eines antisemitischen Kontextes, erklärte Julia Kopp, Projektleiterin bei RIAS, in der Pressekonferenz am Dienstag.
Was RIAS als antisemitisches Narrativ, als Motiv und Bezugnahme versteht, macht die Recherchestelle an der in fachwissenschaftlichen Kreisen stark diskutierten Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) fest. Auch der Bundestag adaptierte diese mit einer Resolution im November 2024. Seitdem lässt sich in Deutschland eine anhaltende Debatte darüber beobachten, was als Antisemitismus bezeichnet werden kann und muss und als solches auch entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen sollte.
Wir brauchen eine Politik und Zivilgesellschaft, die Demokratie nachhaltig verteidigt, konstruktive Streiträume schafft und Gruppen nicht gegeneinander ausspielt.
Rachel Spicker
Prozessbegleiterin und Autorin
Neben Bedrohungen, gezielten Sachbeschädigungen, Angriffen und Fällen extremer Gewalt, trete der dokumentierte Antisemitismus mit 2212 Fällen am häufigsten in Form »verletzenden Verhaltens« auf, mehr als die Hälfte davon online und als Graffitis. Aber auch direkte Beschimpfungen und Ausgrenzungen, im Restaurant, auf der Arbeit, im Bus oder der Bahn, fanden statt. So habe beispielsweise das Restaurant »DoDa’s Deli« in Friedrichshain-Kreuzberg wegen mangelnder Sicherheit schließen müssen, nachdem es mehrmals mit roten Dreiecken markiert wurde, berichtet Sigmund Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Die zuständige Bezirksbürgermeisterin sei angesichts dessen untätig geblieben. Wenn anstelle der roten Dreiecke Hakenkreuze an die Wände des Restaurants gemalt worden wären, so Königsberg, wäre die Reaktion anders ausgefallen.
Ein Bereich, der Kopp besonders bewegt, ist die Zunahme antisemitischer Vorfälle in Bildungsinstitutionen. So wurden laut Bericht in 45 Fällen »jüdische und israelische Kinder und Jugendliche (…) in der Schule, in der Kita, auf der Straße oder auf dem Sportplatz angespuckt, beleidigt, bedroht, körperlich angegriffen oder ihre Sachen wurden beschädigt«. Bei der Pressekonferenz teilte Kopp zudem die Beobachtung, dass Lehrkräfte und Schulleitungen bei antisemitischen Vorkommnissen an der Schule häufig handlungsunsicher seien. Deshalb fehlten häufig eine angemessene Reaktion und Aufarbeitung der Vorfälle.
Auch Hochschulen seien »Tatorte« antisemitischer Vorfälle, wie aus dem Bericht hervorgeht. In 51 Fällen habe RIAS antisemitische Vorfälle an Universitäten festgestellt, davon 13 im Kontext »israelfeindlicher Versammlungen (…), häufig in Form von Protest-Camps und (versuchten) Instituts- und Hörsaalbesetzungen«.
Kopp und Rasumny betonten die Notwendigkeit der zivilgesellschaftlichen Solidarität gegenüber Betroffenen. In dem Bericht kommen auch Stimmen zu Wort, die ihre Wahrnehmung des Antisemitismus in Berlin schildern. So wird die Prozessbegleiterin und Autorin Rachel Spicker zitiert: »Wir brauchen eine Politik und Zivilgesellschaft, die Demokratie nachhaltig verteidigt, konstruktive Streiträume schafft und Gruppen nicht gegeneinander ausspielt.«
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